I, Tonya

Sie war eine der schillerndsten Figuren der US-amerikakischen Sportgeschichte, doch ihr Leben verlief alles andere als das. I, TONYA geht dem Mythos Tonya Harding auf den Grund und erzählt eine Geschichte, so absurd, dass man sie kaum für wahr halten kann. Mehr dazu verrate ich in meiner Kritik.
Der Plot
Sie war die berühmteste Person der Welt – nach Bill Clinton. Als erste Amerikanerin der Welt vollzog Tonya Harding (Margot Robbie) innerhalb eines Wettbewerbs gleich zweimal den sogenannten Dreifach-Axel – einen der anspruchsvollsten Sprünge im Eiskunstlauf. Ihr Name wird jedoch für alle Zeiten mit dem schlecht geplanten und stümperhaft durchgeführten Attentat auf ihre Konkurrentin Nancy Kerrigan (Caitlin Carver) in Verbindung bleiben, das ihre Erzrivalin trainingsunfähig machen und Tonya den Sieg in den amerikanischen Meisterschaften sichern sollte – doch alles kam anders…
Kritik
Nein, die folgende Geschichte stammt nicht aus dem wahnwitzigen Hollywoodskript eines wagemutigen Drehbuchautors, sondern hat sich so tatsächlich ereignet: 1994 wurde die Weltklasseeisläuferin Nancy Kerrigan vor den US-amerikanischen Meisterschaften mit einer Eisenstange attackiert und wettkampfunfähig gemacht. Wie später bekannt wurde, stammte der Attentäter aus dem Umfeld von Tonya Harding, ihres Zeichens Kerrigans schärfste Konkurrentin und damaliges Enfant Terrible ihrer Disziplin. Ohne Kerrigan im Nacken konnte Harding den Wettkampf für sich entscheiden, wurde allerdings wenig später als Mitwisserin des Anschlags entlarvt und geriet anschließend als sogenannte „Eishexe“ in die Schlagzeilen. Nachdem sie im Zuge laufender Ermittlungen ihre Teilnahme an den Olympischen Spielen in Lillehammer gerichtlich durchsetzen konnte, wurde sie anschließend verurteilt und erhielt neben diversen weiteren Auflagen eine lebenslange Sperre. Lange Zeit schwieg sich Tonya Harding darüber aus, wie viel sie tatsächlich von den Plänen gewusst habe. Erst im Zuge des Biopics „I, Tonya“ gab sie zu, eine Ahnung gehabt zu haben. Damit hat Regisseur Craig Gillespie („The Finest Hours“) schon mal eine ganze Menge erreicht. Vor allem aber ist es ihm gelungen, mit seiner Mockumentary ein wertfreies Biopic über eine Person zu inszenieren, die viel zu komplex ist, um sie pauschal als „gut“ oder „böse“ zu bezeichnen. Fest steht nur: In Tonya Hardings Umfeld hatte so ziemlich jeder ganz schön einen an der Klatsche.

Schon als kleines Mädchen zeigt Tonya (Maizie Smith) auf dem Eis ein solches Talent, dass ihre ehrgeizige Mutter LaVona (Allison Janney) unbedingt fördern will.
Bevor der normalerweise eher für seichtere Kost zuständige Drehbuchautor Steven Rogers („Alle Jahre wieder – Weihnachten mit den Coopers“) das Skript zu „I, Tonya“ aufsetzen konnte, führte er ausführliche Interviews mit Tonya Harding und dessen Ex-Mann Gillooly. Die Schilderungen beider Personen gestalteten sich – auch im Zusammenhang mit anschließend recherchiertem Interview- und Tonmaterial von Tonyas Mutter LaVona (im Film: Allison Janney) – derart widersprüchlich, dass Rogers gerade hierin den Ansatz sah, seinem Skript einen besonderen Dreh zu geben. Als erzählerische Klammer dienen im Film nun von den entsprechenden Schauspielern nachgestellte Interviewpassagen, für die echte Gespräche und Aussagen mitunter eins zu eins übernommen wurden, während das, was sie erzählen, in Form von ausführlichen Flashbacks präsentiert wird. Doch das ist nicht alles: In mehreren Momenten lässt er seine Figuren die vierte Wand durchbrechen und die Geschehnisse auf der Leinwand direkt kommentieren. Die widersprüchlichen Aussagen schaukeln sich so zu einem immer groteskeren Szenario hoch, bis man als Zuschauer selbst nicht mehr weiß, was hiervon eigentlich wirklich passiert ist, und wobei es sich lediglich um eine Übertreibung oder gar Lüge handelt. Doch genau so eine Inszenierung ist für ein Biopic über Tonya Harding ideal; obwohl die ehemalige Profieiskunstläuferin spätestens zum Zeitpunkt des Attentats so bekannt war, wie kaum eine andere Person des öffentlichen Lebens, ist schließlich bis heute nicht gänzlich geklärt (Tonya Harding in einem Interview mit dem Stern: „Nur Gott allein kennt die Antwort, was wirklich passiert ist!“), wer im Zusammenhang mit dem Attentat auf Nancy Kerrigan eigentlich welche Rolle gespielt hat.
Trotzdem widmet sich „I, Tonya“ nicht bloß der Phase rund um das Attentat. Craig Gillespie und Steven Rogers sind sehr darauf bedacht, nachzuerzählen, wie eine Person wie Tonya Harding erst zu einer solchen geworden ist; ganz gleich, ob die sich in den Medien nur zu gern als Opfer der Umstände präsentierende Frau den Ruf der „Eishexe“ nun zu Unrecht trägt, oder nicht. „I, Tonya“ setzt ein, als Tonya erst dreieinhalb Jahre alt ist, schon früh ein extremes Talent als Eiskunstläuferin zeigt und gleichsam von ihrer Mutter zur Perfektion gedrillt wird. Anders als es vom US-amerikanischen Eislaufverband indirekt (!) vorgeschrieben wird, stammt das Mädchen jedoch nicht aus einer Familie der Mittel-, oder gar Oberschicht, sondern inszeniert sich (auch wortwörtlich) als White-Trash-Redneck. Das ist mutig; mehr als einmal zeigt der Film, wie Tonya Harding trotz ihres außergewöhnlichen Talents Chancen nur aufgrund ihrer Herkunft verwehrt bleiben – sie habe eben keine „glückliche, amerikanische Familie“, dabei sei es genau das, was der Sport nach außen hin verkaufe. Steven Rogers stellt sich also durchaus an die Seite seiner tragischen Hauptfigur, während er sie ein anderes Mal bewusst ins offene Messer rennen lässt; im Zweifelsfall kann sich Tonya Harding ja immer noch selbst ans Publikum wenden und die Dinge richtig stellen. Hämisch wird „I, Tonya“ dagegen nie, stattdessen präsentiert er sämtliche Figuren hier so, wie sie sich selbst bereits in diversen Zusammenhängen präsentiert haben. Und das haben die aller meisten involvierten Figuren nun mal nicht auf die klügste Weise getan.
Eine außergewöhnliche Erzählstruktur bedarf einer außergewöhnlichen Inszenierung. Craig Gillespie läuft in „I, Tonya“ zu exzentrischer Hochform auf und lässt seine Szenen nicht bloß die Luft der Achtziger- und Neunzigerjahre atmen, sondern reizt das mögliche Tempo bis zum Anschlag aus. In diesem Film gibt es keine Pause, stattdessen folgt in grellen Farben und unter Zuhilfenahme von zügigen, bisweilen stakkatoartigen Schnitten (die später wichtig sind, um den Eindruck aufrecht zu erhalten, Margot Robbie würde tatsächlich gerade die schwierigsten Figuren auf dem Eis laufen) eine Aneinanderreihung von Interviewausschnitten und nachgestellten Szenen, bis das Ganze wieder von vorn losgeht. Dazwischen setzen die Schauspieler ihre ganz eigenen Duftmarken. Die bereits in diversen anderen Rollen so überragende Margot Robbie („Suicide Squad“) kann sich dank ihrer Verwandlung nun hoffentlich davon freimachen, nur auf ihr Äußeres beschränkt zu werden, während Allison Janney („Girl on the Train“) die widerlichste, zynischste, gleichermaßen aber auch faszinierendste Mutterfigur der jüngeren Kinogeschichte spielt. Diesen beiden Damen überlässt der Rest des Ensembles gern die Bühne. Gleichermaßen sind sie alle mit so treffsicheren Dialogen ausgestattet, dass man im Anbetracht der hanebüchenen Aussagen irgendwann gar nicht mehr infrage stellt, dass all das wirklich so passiert ist. Spätestens wenn Paul Walter Hauser („Kingdom“) in seiner Rolle des Muttersöhnchens und Möchtegern-Bodyguards Shawn sich selbst als Antiterror-Experten bezeichnet und diese Passage im Abspann mit den Original-Aufnahmen von damals belegt wird, beginnt man endgültig, vom Glauben abzufallen.
Fazit: Mit seinem ungewöhnlich erzählten Mockumentary-Biopic „I, Tonya“ wird Regisseur Craig Gillespie der darin porträtierten, faszinierenden Ex-Eisläuferin Tonya Harding zu jedem Zeitpunkt gerecht – genau wie Margot Robbie, die hier ihre bislang beste Performance abliefert.
„I, Tonya“ ist ab dem 22. März in den deutschen Kinos zu sehen.