Berlin Alexanderplatz

Auch die Romanverfilmung BERLIN ALEXANDERPLATZ musste aufgrund der Corona-Krise vielfach verschoben werden. Nun kommt die wuchtige Neuinterpretation der bekannten Geschichte mit reichlich Verspätung in die Kinos, sollte aber trotzdem auf jeden Fall dort genossen werden. Auch wenn sie nicht frei von Schwächen ist. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: Berlin Alexanderplatz (DE/NED/FR/CAN 2020)

Der Plot

Dies ist die Geschichte von Francis (Welket Bungué). Auf der Flucht von Afrika nach Europa kentert er und rettet sich mit letzter Kraft an einen Strand der Mittelmeerküste. Dort schwört er dem lieben Gott, dass er von nun an ein guter, ein anständiger Mensch sein will. Bald führt Francis‘ Weg nach Berlin und jetzt ist es an ihm, seinen Schwur auch einzuhalten. Doch die Lebensumstände als staatenloser Flüchtling machen es ihm nicht einfach. Das Schicksal wird ihn auf eine harte Probe stellen. Dann trifft er auf den zwielichtigen deutschen Drogendealer Reinhold (Albrecht Schuch) und die Leben der beiden Männer verbinden sich zu einer düsteren Schicksalsgemeinschaft. Immer wieder versucht Reinhold, Francis für seine Zwecke einzuspannen, immer wieder widersteht er. Schließlich wird Francis von Reinhold verraten und verliert bei einem Unfall seinen linken Arm. Francis wird von Mieze (Jella Haase) aufgenommen und aus seiner Verzweiflung gerettet. Die beiden verlieben sich und werden ein Paar. Seine Geschichte könnte sich nun eigentlich gut ausgehen. Doch Francis kann der Anziehung von Reinhold nicht widerstehen.

Kritik

Es wäre ja nicht das erste Mal, dass ein auf der Berlinale seine Premiere feiernder Film das Publikum spaltet. Im Falle von Burhan Qurbanis Romanverfilmung „Berlin Alexanderplatz“ war das nicht anders. Auch hier gingen die Meinungen weit auseinander. Letztlich waren die positiven Stimmen immerhin einen kleinen Tick lauter. Gelobt werden vor allem die intensive Inszenierung und die Darstellerleistungen. Sowie nicht zuletzt die handwerkliche und erzählerische Fähigkeit, einen im Jahr 1929 veröffentlichten und spielenden Roman in die Gegenwart zu versetzen. Dass das so reibungslos funktioniert, liegt in erster Linie daran, dass der von Alfred Döblin verfasste Bestseller Themen aufgreift, die bis heute gesellschaftlich relevant sind. In der Vorlage geht es um einen frisch aus dem Gefängnis entlassenen Sträfling, der sich im Berlin der Weimarer Republik versucht, ein neues Leben aufzubauen, dabei jedoch immer wieder den Verführungen der Großstadt erliegt. Im „Berlin Alexanderplatz“ aus dem Jahr 2020 geht es nun nicht mehr um Franz Biberkopf, sondern um Francis, einen Flüchtling aus Afrika, für den die Sterne ähnlich stehen.

Welket Bungué spielt die Rolle des Flüchtlings Francis überragend.

Die im Buch einen recht großen Platz einnehmende Nazithematik ist in der 2020er-Variante nicht mehr präsent, auch wenn sie (leider) ebenfalls in die heutige Zeit gepasst hätte. Doch die Verführungen für Francis sehen hier anders aus. So geht es vor allem um Drogen und Sex, die sich in einer Art verborgenen Berliner Parallelgesellschaft aus Flüchtlingen und Abgehängten zur Währung entwickelt haben. Die Schilderungen wie Francis in diese Community hineingezogen wird, als Flüchtling schier kaum eine andere Wahl zu haben scheint, in diesem unaufhaltsamen Strudel an Abhängigkeiten gewinnt und nach und nach seine eigene Identität verliert, bereitet das Skript von Martin Behnke und Burhan Qurbani (schrieben auch schon zusammen das Skript zu „Wir sind jung. Wir sind stark.“) authentisch und nachvollziehbar auf. Sodass man bis zu einem gewissen Punkt und ab dann immer mal wieder mit Francis mitleidet. „Berlin Alexanderplatz“ war schon immer eine Studie über das Scheitern – in diesem Fall über das Scheitern im 21. Jahrhundert, wo es, ginge alles gerecht zu, ja gar keine Hidden Communitys wie hier gezeigt mehr geben dürfte. Dadurch erinnert „Berlin Alexanderplatz“ seines Alleinstellungsmerkmals eines Drei-Stunden-Epos‘ zum Trotz vor allem an Sebastian Schippers „Roads“, wenngleich dieser am Ende weniger vom Scheitern denn vielmehr von Perspektiven erzählte.

„Die Schilderungen wie Francis in diese Community hineingezogen wird, als Flüchtling schier kaum eine andere Wahl zu haben scheint, in diesem unaufhaltsamen Strudel an Abhängigkeiten gewinnt und nach und nach seine eigene Identität verliert, bereitet das Skript von Martin Behnke und Burhan Qurbani authentisch und nachvollziehbar auf.“

Apropos Epos: Wenn man weiß, dass es im Jahr 1980 bereits eine 14 Folgen (!) umfassende Serie à 58 bis 112 Minuten pro Episode gab, wirkt eine gerade einmal drei Stunden umfassende Verfilmung gar nicht mehr so lang. Doch auch wenn die Macher längst nicht jede Etappe aus Francis‘ Leben der Vorlage entsprechend ausbreiten können, ist „Berlin Alexanderplatz“ natürlich trotzdem pickepackevoll. Das stimmt sowohl im erzählerischen als auch im inszenatorischen Sinne. Die Autoren katapultieren den Zuschauer von einer Katastrophe in die nächste. Selbst die zwischendurch wie emotionale Haltegriffe anmutenden, vermeintlich harmonischen Szenen zwischen Francis und seiner großen Liebe Mieze (die Interaktion zwischen „Fack ju Göhte“-Star Jella Haase und dem hierzulande noch nahezu unbekannten Welket Bungué ist absolut überwältigend) können ihre prekären Lebensumstände nur kurz vergessend machen. Dafür sind der von Albrecht Schuch („Systemsprenger“) herausragend skrupellos verkörperte Reinhold und sein Einfluss auf Francis allgegenwertig. Doch auch die dröhnend-treibende Inszenierung der Berliner Unterwelt (Kamera: Yoshi Heimrath, „Die Vierhändige“) als Schmelztiegel verschiedener Kulturen, Sündenpfuhl und vergiftetem Hoffnungsbringer zieht das Publikum unaufhaltsam in ihren Bann. Am Ende braucht man erst einmal Zeit, um die unaufhaltsam auf eine Katastrophe zusteuernden Ereignisse zu verdauen.

Francis möchte sich von Reinhold (Albrecht Schuch) lösen und seinen eigenen Weg gehen.

Aber Burhan Qurbani verzettelt sich auch. Und das in erster Linie aufgrund Miezes fragwürdigen Voice-Overs. Wenn diese die Ereignisse rund um Francis und sein Schicksal in Berlin chronologisch, vor allem aber moralisch und emotional einordnet, schiebt sie einen Großteil der Verantwortung für Francis‘ Handeln, egal ob gewollt oder ungewollt, von ihm weg. Anstatt die Schuld für das sukzessive Eskalieren der Geschehnisse den Schilderungen entsprechend aufzuteilen – mal drängen die äußeren Umstände Francis so weit in die Ecke, dass dieser gar nicht anders kann, als sich mit Gewalt zu wehren, ein anderes Mal wiederum sucht er von sich aus den körperlichen Konflikt – findet Mieze für jede Tat alsbald eine Ausrede. Das wird besonders deutlich an der hier fast schon mantraartig heruntergebeteten Aussage „Er wollte gut sein, aber man hat ihn nicht gelassen.“ Die existiert in der Buchvorlage auch. Doch so, wie es in „Berlin Alexanderplatz“ aufbereitet wird, positioniert das Skript Francis klar als Opfer. Dabei gewinnt die Geschichte ja überhaupt erst an Authentizität, eben weil die Grenzen zwischen Gut und Böse hier permanent verschwimmen. Indem die Macher Francis seiner Verantwortung entheben, werden sie der moralischen Komplexität der Vorlage schlicht nicht gerecht. Und das wiederum versetzt dem Sehvergnügen dann doch einen argen Dämpfer.

„Wenn Mieze die Ereignisse rund um Francis und sein Schicksal in Berlin chronologisch, vor allem aber moralisch und emotional einordnet, schiebt sie einen Großteil der Verantwortung für Francis‘ Handeln, egal ob gewollt oder ungewollt, von ihm weg.“

Denn wenn man als Zuschauer selbst nicht die Gelegenheit bekommt, die Ereignisse einzusortieren, sich damit auseinanderzusetzen und – selbst das ist erlaubt – hin und wieder auch mal zu verzweifeln, sondern all das von einer Off-Stimme vorgekaut bekommt, kann man ebenso gut das seinen Lesern deutlich mehr zutrauende Buch lesen.

Fazit: „Berlin Alexanderplatz“ ist eine wuchtig inszenierte Neuauflage des gleichnamigen Jahrhundertromans und besticht mit einer betörenden Atmosphäre und herausragenden Darstellerleistungen, insbesondere von Albrecht Schuch. Der moralischen Ambivalenz der Vorlage wird diese Interpretation allerdings nicht gerecht.

„Berlin Alexanderplatz“ ist ab dem 16. Juli in den deutschen Kinos zu sehen.

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