Lara

Nach seinem Überraschungserfolg „Oh Boy“ legt Regisseur Jan-Ole Gerster mit LARA nach und erzählt diesmal nicht von einem jungen Mann, sondern von einer in die Jahre gekommenen Frau, die zunächst scheinbar ziellos aber schließlich mit Mission durch Berlin irrt – und dabei alte Träume und verlorene Chancen versucht, hinter sich zu lassen. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Es ist Laras (Corinna Harfouch) sechzigster Geburtstag, und eigentlich hätte sie allen Grund zur Freude, denn ihr Sohn Viktor (Tom Schilling) gibt an diesem Abend das wichtigste Klavierkonzert seiner Karriere. Schließlich war sie es, die seinen musikalischen Werdegang entworfen und forciert hat. Doch Viktor ist schon seit Wochen nicht mehr erreichbar und nichts deutet darauf hin, dass Lara bei seiner Uraufführung willkommen ist. Kurzerhand kauft sie sämtliche Restkarten und verteilt sie an jeden, dem sie an diesem Tag begegnet. Doch je mehr Lara um einen gelungenen Abend ringt, desto mehr geraten die Geschehnisse außer Kontrolle.
Kritik
Der zweite Film ist immer der schwerste. Erst recht, wenn man bei seinem Debüt direkt einen Volltreffer gelandet ist und nun hoffen muss, nicht als Eintagsfliege abgestempelt zu werden. So ist es auch Regisseur Jan-Ole Gerster ergangen, der für sein Erstlingswerk „Oh Boy“ direkt viele Risiken auf sich genommen und ein Arthaus-Drama in schwarz-weiß mit einem damals noch weitestgehend unbekannten Tom Schilling („Die Goldfische“) gedreht hat. Der Film wurde zu Recht zu einem – für seine Verhältnisse – absoluten Wahnsinnserfolg und lockte 2012 hierzulande über 370.000 Zuschauer in die Kinos – mehr als solche für die Masse produzierten Big-Budget-Produktionen wie „21 Jump Street“, „Heiter bis wolkig“ oder „Looper“. Für seinen zweiten Film „Lara“ hat sich Gerster ganze sieben Jahre Zeit gelassen und ging in der Inszenierung einen smarten Weg: Dem, was er gut kann (nämlich eine einzige Figur zum Mittelpunkt bestimmen und ihr dann über mehrere Stunden folgen sowie ihre Interaktion mit der Umwelt skizzieren), bleibt er treu. Eine Selbstkopie ist „Lara“ trotzdem zu keiner Sekunde. Und das nicht bloß, weil hier eine Frau die Hauptrolle spielt und der Film in Farbe in die Kinos kommt. In „Oh Boy“ ging es um den emotionalen Balanceakt eines eigentlich unbekümmerten Endzwanzigers, der sich von heute auf morgen mit dem Ernst des Lebens konfrontiert sieht. In „Lara“ hat die titelgebende Protagonistin ebendiesen Ernst des Lebens längst hinter sich und sinnt verzweifelt darauf, für ein paar Momente die Glückseligkeit ihrer Vergangenheit zurückzuerlangen. Und je mehr Filmminuten vergehen, desto mehr öffnet sich einem Laras zunächst verschlossene Fassade.
Der gebürtig aus Slowenien stammende Drehbuchautor Blaz Kutin („Nikoli nisva sla v Benetke“) macht von Anfang an keinen Hehl daraus, dass man diese Nuss namens Lara erst einmal knacken muss. Und auch, wem das bis in die aller letzte Sekunde des Films nicht gelingen sollte, braucht sich keineswegs schlecht zu fühlen. Corinna Harfouch („So was von da“) mimt die nach außen hin verbitterte, im Kern jedoch seit vielen Jahren verletzt um Anerkennung ringende Protagonistin so treffsicher unnahbar, dass man lange Zeit nur zusehen aber nie recht mitfühlen kann. Doch genau hierin liegt der Reiz: Mehr als eine Stunde lang verfolgen wir eine zunächst ziellos, später immer zielgerichteter durch Berlin laufenden Frau, die ins bereits in der aller ersten Szene als akut suizidgefährdet vorgestellt wird. Wo andere Filmemacher mit Rückblenden arbeiten würden, um den Charakter sukzessive zu formen, bleibt uns als Betrachter hier nur der Moment. „Lara“ ist eine Momentaufnahme, aus der sich nach und nach das komplexe Bild einer Frau herausschält, die uns mit ihrem widersprüchlichen Verhalten immer wieder vor den Kopf stößt. Sie provoziert unterschwellig in Gesprächen mit Bekannten und Kollegen, (so etwas wie Freunde hat sie nicht) sucht händeringend den Kontakt zu ihrem Sohn, der sich aber letztlich doch nur auf den Austausch von Oberflächlichkeiten und subtilen Anschuldigungen beschränkt. Und jedweder sich als aufopferungsvoll oder nett andeutenden Geste – etwa, wenn Lara die letzten verbliebenen Konzertkarten ihres Sohnes aufkauft, um sie anschließend zu verschenken – wohnt ein Hintergedanke inne.
Nein, diese Lara ist keine Person, mit der man im echten Leben gern Zeit verbringen würde. Die Reaktionen derjenigen, die ihr auf ihrer Odyssee durch Berlin begegnen, lassen da ebenfalls keinen Zweifel dran aufkommen. Die absolut lebensecht getroffenen Dialoge verstärken den Eindruck absoluter Authentizität; man würde nie infrage stellen, dass es all diese Gespräche und Konflikte so vielleicht wirklich geben könnte – von den innerfamiliären Streitigkeiten mit Sohn, Ex-Mann (in seinen kurzen Auftritten stark: Rainer Bock) und Mutter (Gudrun Ritter) über das mit schmerzhafter Melancholie geschwängerte Schwelgen in Laras Vergangenheit als hoffnungsvolle aber letztlich eben doch nicht zur Genüge talentierte Pianistin mit ihrem ehemaligen Klavierlehrer (Volkmar Kleinert) bis hin zu kleinen Intrigen gegen ihre Schwiegertochter (Mala Emde) – „Lara“ ist voll von spitzfindigen Beobachtungen, aus denen sich bei allen größeren wie subtileren Gemeinheiten zum Trotz dennoch eine ungeheure Liebe für die Hauptfigur herauskristallisiert. Denn so beißend (und bisweilen beißend komisch) es auch sein mag, Lara bei ihrem (Rache-?)Feldzug gegen ihre Umwelt zuzusehen, so wohnt all ihren Taten und Worten immer auch eine tiefgreifende Verzweiflung inne. Keine von der Art, dass sich hier eine verbitterte alte Frau einfach nur selbst entsetzlich leidtut, weil ihr in der Vergangenheit nicht genug Wertschätzung entgegengebracht wurde. Sondern eine, die von verlorenen Träumen und dem steten Suchen nach sich selbst geprägt ist; Lara hat selbst mit 60 Jahren ihren Standpunkt im Leben noch immer nicht gefunden.
Corinna Harfouch ist in der Rolle der Lara eine absolute Wucht, die mit ihrer stets zwischen subtil nach innen gekehrten und gleichermaßen selbstbewusst sowie ohne Rücksicht auf Verluste changierenden Performance zu einer der durch ihre glaubhafte Widersprüchlichkeit charakterlich voluminösesten Figuren, die das Kinojahr 2019 hervorzubringen imstande war. Manchmal reicht nur ein Blick oder ein einziges Wort (!) Harfouchs aus, um die Stimmung um sich herum radikal zum Kippen zu bringen. Insbesondere im Austausch mit ihrem Sohn, den Tom Schilling nicht minder zerrissen verkörpert, fährt Harfouch all ihr darstellerisches Können auf. Doch so sehr „Lara“ auch als herausragend gespielte Charakterstudie funktioniert, so zielgenau treffen die vereinzelten Pointen der Situationskomik ihr Ziel. Autor Blaz Kutin hat ein hervorragendes Gespür dafür, in der Ernsthaftigkeit der Situation den morbiden Witz zu finden (das deutet sich direkt in der aller ersten Szene bei den ungelenken Funksprüchen der Polizisten an). Doch erst Jan-Ole Gerster gelingt es, diesen Humor so in seinem Film unterzubringen, dass er sich perfekt in die ansonsten eher tragische Szenerie fügt. Eine Leistung, die er mit der aller letzten Szene von „Lara“ perfektioniert, wenn er seine Geschichte – im wahrsten Sinne des Wortes – auf einer Note enden lässt, die zwei Lesarten deuten. Entweder die des Happy-, oder aber die des Sad Ends.
Fazit: „Lara“ ist ein absolut lebensechtes Porträt einer Frau, die einen trotz ihrer harten Schale von Minute zu Minute immer weiter in ihren Bann zieht, ohne einfach irgendwann nur ganz billig einen weichen Kern zu entlarven. „Lara“ ist authentisch und echt, „Lara“ ist lustig und traurig und „Lara“ ist genauso wahrhaftig wie Corinna Harfouch, die hier eine ihrer besten Leistungen überhaupt abliefert.
„Lara“ ist ab dem 7. November in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.