Rocketman

Nach dem überragenden Erfolg des Queen-Biopics „Bohemian Rhapsody“ erscheint mit ROCKETMAN nun der nächste Film über einen Weltklassemusiker. Und das ist bei Weitem nicht die einzige Gemeinsamkeit der beiden Filme. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Mitte der 1960er-Jahre: Reginald Dwight (Taron Egerton) ist ein ganz normaler Junge in einem Vorort von London, ein bisschen dick, viel zu schüchtern – nur am Klavier fühlt er sich wirklich wohl. Doch als er nach London kommt, kann er endlich seine wahre Leidenschaft ausleben: den Rock ’n’ Roll. Er trifft den Texter Bernie Taupin (Jamie Bell) und erregt schnell Aufmerksamkeit in der Londoner Szene. Nur der Name passt noch nicht: Erst als Reginald sich in Elton John umbenennt, steht seinem raketengleichen Aufstieg nichts mehr im Weg, denn auf der Bühne verwandelt sich der schüchterne Reggie in einen außergewöhnlichen Rocksänger. In kürzester Zeit schießt Elton John ganz nach oben in die Charts, schreibt einen Nummer-eins-Hit nach dem anderen und trägt immer wildere Kostüme und Brillen. Doch wer steil aufsteigt, kann auch tief fallen, und Elton John ist klar, dass er nicht auf ewig ein Rocketman sein kann.
Kritik
Das Elton-John-Biopic „Rocketman“ ist so schillernd, so besonders und unkonventionell, dass es regelrecht dafür prädestiniert gewesen wäre, den jahrzehntelang als Schauspieler tätigen Briten Dexter Fletcher endlich auch als Regisseur zu etablieren. Zwar handelt es sich hierbei bereits um seine vierte Regiearbeit, doch das hierzulande nie erschienene Drama „Wild Bill“, die romantische Komödie „Make My Heart Fly“ und das Eddie-Edwards-Porträt „Eddie the Eagle“ wurden nie zu großen Hits. Dann kam allerdings alles anders. Gemeinsam mit Kameramann Newton Thomas Siegel rettete Dexter Fletcher die katastrophale Produktionshistorie von „Bohemian Rhapsody“, indem die beiden den in Ungnade gefallenen Bryan Singer kurzfristig ersetzten. Das Endergebnis ist zwar umstritten, aber ganz sicher nicht deshalb, weil man ihm das Chaos hinter den Kulissen anmerkt, sondern weil große Uneinigkeit darüber besteht, wie gut das Drehbuch von Anthony McCarten wirklich ist. Wer sich anhand „Bohemian Rhapsody“ noch nicht ganz sicher war, wie viel Dexter-Fletcher-Vibe nun eigentlich in dem Film steckt, dem verrät sein Folgewerk „Rocketman“: offenbar sehr, sehr viel, denn optisch und bisweilen auch inszenatorisch ähneln sich die Musikerbiographien stark. Trotzdem hat sich Fletcher ganz auf die extravagante Persönlichkeit seines Protagonisten eingelassen: „Rocketman“ ist überraschenderweise nicht einfach nur ein Musikfilm, sondern ein melancholisches Musical, das das Kunststück fertig bringt, inmitten der Klammer eines AA-Treffens vom raketenhaften Aufstieg hin zum dramatischen Fall des Superstars einmal die komplette emotionale Bandbreite abzugreifen und dabei ebenso kraftvoll und optimistisch zu sein wie niederschmetternd und tottraurig. Und mittendrin liefert „Kingsman“-Star Taron Egerton eine preiswürdige (Gesangs-)Performance ab.

Sherila (Bryce Dallas Howard), Ivy (Gemma Jones) und Bernie (Jamie Bell) lauschen Eltons (Taron Egerton) „Your Song“.
Bleiben wir noch für einen kurzen Moment beim Vergleich zwischen „Rocketman“ und „Bohemian Rhapsody“ – einfach auch deshalb, weil es spannend sein wird, zu sehen, ob es sich bei dem Queen-Film einfach nur um eine große Ausnahme gehandelt (Filme über Musiker waren an den Kinokassen nämlich eigentlich noch nie richtig erfolgreich), oder ob er einen neuen Trend losgetreten hat. Trotz des Einspiels von über 800 Millionen US-Dollar gehen die Meinungen über „Bohemian Rhapsody“ weit auseinander. Vor allem die fehlende Akkuratesse in der Nacherzählung wahrer Ereignisse ist einer der großen Kritikpunkte an dem Oscar-prämierten Drama (Rami Malek wurde 2019 als „Bester Hauptdarsteller“ ausgezeichnet). So wurden gerade die Schattenseiten aus Freddy Mercurys Leben nur wenig beleuchtet; „Bohemian Rhapsody“ war eben vor allem ein Feel-Good-Film, in dem seine AIDS-Erkrankung, sein früher Tod und die Unstimmig- und Streitigkeiten innerhalb der Band zugunsten der familienfilmtauglichen Dramaturgie nur bedingt Platz fanden. „Rocketman“ dagegen beginnt direkt auf einem Treffen der anonymen Alkoholiker. Und noch bevor wir überhaupt in den Genuss der ersten knallbunten Popmusicalnummer kommen, betet der junge Elton John einmal die gesamte Bandbreite an Drogen und Suchtmitteln herunter, von denen er zum damaligen Zeitpunkt (seit 1990 ist er clean) abhängig war. Ohnehin handelt die zweite Hälfte von „Rocketman“ vor allem von Elton Johns Absturz beziehungsweise von der Zeit, in der er versuchte, seine schillernde Bühnenidentität aufrecht zu erhalten und seine längst im Suchtrausch gefangene, unglückliche Privatseele zu verstecken. Doch wie bekommt Dexter Fletcher dieses düstere Kapitel aus Elton Johns Leben mit der Gute-Laune-Attitüde eines Musicals unter einen Hut?
Die Antwort auf die Frage liefert Drehbuchautor Lee Hall („Victoria & Abdul“). Zwar inszeniert Dexter Fletcher die Gesangs- und Tanzeinlagen zumeist sehr energetisch, fantasievoll und bisweilen gar surrealistisch, gleichzeitig besitzen sie durch den erzählerischen Kontext stets etwas Bitteres. Wenn sich Elton beispielsweise kurz vor einem umjubelten Auftritt mit seinem Texter Bernie streitet, weil dieser den emotionalen Verfall seines besten Freundes längst mitbekommen hat, steht Eltons an den Tag gelegte Leidenschaft im krassen Kontrast zu jenen einsamen Momenten zwischen den glanzvollen Auftritten; und aus dem lachenden, kostümierten Musikgenie wird nach und nach ein trauriger Clown, hinter dessen Fassade „Rocketman“ ungewöhnlich intime Einblicke gewährt – erst recht, wenn man bedenkt, dass Elton John höchstpersönlich als Produzent des Films fungierte. Die daraus resultierende Befürchtung, die Macher hätten sich entsprechend nur an den Sternstunden des Musikers abarbeiten dürften, löst sich jedoch schnell in Luft auf. Elton John ist in „Rocketman“ zu gleichen Anteilen musikalisches Genie und Rampensau wie schüchtern und alsbald ein Abhängiger, der sich zwischen all den neuen Herausforderungen aufgrund seines plötzlichen Ruhmes auch noch mit seiner sexuellen Identitätsfindung auseinandersetzen muss. Seine kurze Schein- respektive Verzweiflungsehe mit der deutschen Tontechnikerin Renate Blauel findet ebenso kurze Erwähnung wie die ungesunde Beziehung zu seinem Manager John Reid („Game of Thrones“-Star Richard Madden). Und entgegen früherer Kürzungspläne zugunsten einer niedrigeren Altersfreigabe hat es sogar eine Sexszene zwischen den beiden in den Film geschafft.

In „Rocketman“ werden aus ganz normalen Musikfilmszenen surrealistische Choreographien voller Poesie.
Doch so ehrlich, wenngleich nicht immer besonders detailliert ausgeführt (die Ehe mit Blauel umfasst in „Rocketman“ beispielsweise nur wenige Szenen, auch die Momente im Kreise der Familie hätten insgesamt etwas mehr Screentime vertragen, um die schwierige Beziehung zwischen Elton und seinen Eltern besser einordnen zu können), die Verantwortlichen mit ihrer Hauptfigur ins Gericht gehen, so kraftvoll und intensiv sind die Szenen geraten, in denen einzig und allein das musikalische Wirken Elton Johns im Mittelpunkt steht. Gerade hier macht es sich Fletcher zunutze, dass sein Film eben nicht nur Musikfilm, sondern überhöhtes Musical ist: Wann immer es ein erzählerischer Abschnitt gerade hergibt, lässt er seine Figuren in teils höchst aufwändig choreographierten und gefilmten Szenen singen und tanzen; und zwar unabhängig von der Entstehungszeit des jeweils vorgetragenen Songs. Der Vorteil für Elton-John-Fans: Sie kommen dadurch in den Genuss besonders vieler Stücke. Von „Saturday Night’s Alright for Fighting“ (ein frühes Highlight im Film) über eine rührende Studioperformance von „Your Song“ bis zum triumphalen Abschluss mit „I’m Still Standing“ arbeitet sich Fletcher einmal quer durch die musikalische Vita des mittlerweile 72-jährigen Superstars. Und dank der Musical-Form entzieht sich Fletcher ohnehin dem Anspruch auf vollständige Korrektheit. Jemand anderes nimmt es dafür ganz besonders genau: Taron Egerton, der sämtliche seiner Songs aus „Rocketman“ live eingesungen hat, ist nicht nur stimmlich bemerkenswert nah am Original, sondern legt all seine Passion und sein schauspielerisches Talent in die Verkörperung des jungen Elton John. Wie hervorragend ihm das gelingt, sieht man schließlich im Finale, wenn die Nachstellung des Musikvideos von „I’m Still Standing“ irgendwann nahtlos ins Original übergeht. Das ist wohl das, was man Idealbesetzung nennt.
Fazit: Regisseur Dexter Fletcher inszeniert den Aufstieg und Fall des Weltmusikers Elton John als gleichermaßen melancholisches wie fetziges Musical-Biopic, für das er die widersprüchlichen Attribute seines ebenso schillernden wie tragischen Helden bemerkenswert stimmig unter einen Hut bekommt.
„Rocketman“ ist ab dem 30. Mai bundesweit in den deutschen Kinos zu sehen.