Candelaria

Im romantischen Drama CANDELARIA erzählt Regisseur Jhonny Hendrix Hinestroza nicht bloß von einer im hohen Alter neu entflammenden Liebe, sondern auch von einem Land zwischen Traditionsbewusstsein und Sensationstourismus. Mehr dazu verrate ich in meiner Kritik.

Der Plot

Kuba in den Neunzigerjahren: Das Land ist geprägt von Armut, Zigarren und Rum. Touristen fühlen sich von dieser verwegenen Mischung magisch angezogen. Die 75-jährige Candelaria (Verónica Lynn) und ihr ein Jahr älterer Mann Victor Hugo (Alden Knigth) agieren lethargisch inmitten dieses flirrenden Landes. Zusammen sind sind sie nur noch aus Bequemlichkeit und weil sie sich schlicht und ergreifend einfach zu gut aneinander gewöhnt haben. Das ändert sich allerdings, als Candelaria bei ihrer Arbeit in einer Wäscherei eine Videokamera findet. Nach Inspektion der privaten Aufnahmen eines US-amerikanischen Pärchens nutzen die beiden Senioren das Gerät, um ihre Liebe neu zu entfachen. Nicht ahnend, dass das ihr Leben für immer verändern wird…

Kritik

Als Andreas Dresen in seinem Drama „Wolke 9“ vor zehn Jahren eine Liebes- und Leidensgeschichte über ein Rentnerehepaar erzählte und dabei auch mit expliziten Sexszenen nicht geizte, sorgte das erwartungsgemäß für eine Kontroverse. In der Regel wird darauf geachtet, dass sich durch die Laken wälzenden Zeitgenossen eine gewisse Ästhetik an den Tag legen. Realismus Fehlanzeige! Dresen ging aktiv dagegen an und zeigte körperliche Liebe, wie sie nun mal ist; auch, wenn die Protagonisten die Sechzig längst überschritten haben. Doch wer dachte, mit diesem Tabubruch würde der Regisseur einen Trend lostreten, der irrt. Nach wie vor wird in Filmen für die Generation Grau der Liebesakt allenfalls angedeutet, nicht aber bewusst gezeigt. Im demnächst in den Kinos erscheinenden, in den USA längst zum Erfolg gewordenen „Book Club“ wird von den betagten Damen immerhin ausführlich über Sex gesprochen, dieser sogar mit Nachdruck eingefordert. Wesentlich näher kommt Dresens Vision von der Selbstverständlichkeit der Liebe im Alter dafür der kolumbianische Regisseur Jhonny Hendrix („Chocó“), der allerdings nicht bloß davon erzählt, wie ein Paar mit Mitte Siebzig plötzlich anfängt, Sexfilmchen zu drehen, sondern daran vor allem die Zustände eines Landes offenlegt, das wie kein Zweites zwischen dem Streben nach eigenständiger Kultur und der Abhängigkeit von Tourismus gefangen ist. Dadurch erinnert „Candelaria“ dann auch nicht etwa als erstes an „Wolke 9“, sondern in seiner Motivation vielmehr an so streitbare Gewaltfilme wie „A Serbien Film“, „Hostel“ oder den russischen Oscar-Beitrag „Loveless“, in denen das Schicksal einer Einzelperson die Situation eines ganzen Landes widerspiegelt.

Bei Victor Hugo (Alden Knight) und seiner Frau Candelaria (Veronica Lynn) ist die Leidenschaft neu entflammt.

Das Kuba, das Jhonny Hendrix hier zeichnet, könnte ambivalenter nicht sein. Die Sonnenstrände und die mit Leben gefüllten Gässchen der malerischen Stadt fängt Kameramann Soledad Rodríguez („Pendular“) mit solch stilsicherer Eleganz ein, als wolle er einen Imagefilm über den karibischen Inselstaat drehen. Die schlicht und ergreifend wunderschönen Bilder machen deutlich, worin für viele der Reiz liegt, Kuba und seine Hauptstadt Havanna auch trotz seiner wirtschaftlichen Schieflage einmal besuchen zu wollen. Im Mittelpunkt von „Candelaria“, betitelt nach der weiblichen Hauptfigur, steht allerdings ein Pärchen, dass mit den Sonnenseiten seines Lebensraumes nur selten in Berührung kommt. Die beiden leben zwar dort, wo andere Urlaub machen, doch das Leben ist hart und beschwerlich. Mit wenigen exemplarischen Szenen gelingt es Hendrix, die Not von Victor Hugo und seiner Candelaria greifbar zu machen. Reichtümer haben sie keine. Nicht einmal genügend Essen haben sie, stattdessen sind die beiden nur noch Haut und Knochen (die gestohlenen Hühnerküken werden aus Candelarias Überzeugung heraus nicht geschlachtet). Und ein grobmotorisch über dem Bett montierter Kronleuchter wird schon gar nicht mehr repariert. Würde er auf Candelaria und ihren Mann herunterkrachen, wäre das Leid schließlich endlich beendet. Trotzdem geizt das Skript (Jhonny Hendrix, Maria Camila Arias, Abel Arcos Soto, Carlos Quintela) nicht mit Momenten inniger Zweisamkeit. Schließlich ließe sich ein Leben in derartigen Verhältnissen alleine kaum ertragen.

Trotzdem ist die Monotonie in der Beziehung nicht zu leugnen. Als Victor Hugo seiner Ehefrau einfach mal wieder einen Kuss geben möchte, schreckt diese sogar irritiert zurück – soviel Zärtlichkeit ist sie gar nicht mehr gewohnt. Erst, als Candelaria eine Videokamera findet, wird der Alltag des Paares von etwas Neuem durchbrochen. Die beiden beginnen, durch die Kameralinse ihr Begehren für den jeweils anderen neu zu entdecken; mal filmt er sie heimlich, wie sie nur mit einem Handtuch bekleidet auf der Bettkante sitzt. Ein anderes Mal wiederum entblößt sie sich gezielt für ihren Gatten, bis beide schließlich Sex vor laufender Kamera haben. Doch „Candelaria“ erzählt nicht nur davon, wie sich zwei Mittsiebziger plötzlich wieder an körperlicher Liebe versuchen. Als die Kamera in falsche Hände gerät, sehen sich Victor und seine Frau plötzlich mit dem unmoralischen Angebot konfrontiert, für Geld erotische Homevideos zu drehen, die sich zu hohen Preisen an Touristen mit besonderen Vorlieben verkaufen lassen. In diesem Moment wird aus der Charakterstudie über zwei in ihrer Monotonie gefangene Menschen plötzlich ein Film, der sich in seinem Konflikt auch auf den Zustand Kubas übertragen lässt. Das Land wollte sich nie den Touristen anbiedern, selbstständig bleiben und sich seine Unabhängigkeit bewahren, eh die Armut diesem Vorhaben einen Strich durch die Rechnung machte. Die Einheimischen haben sich damit arrangiert, doch können sich auch Candelaria und Victor Hugo damit abfinden, dass ihre intimen Schäferstündchen fremden Zuschauern als Vorlage dienen, um die erotische Fantasie anzuregen?

Wie wird sich das Paar entscheiden?

Ganz ohne die subtile Inszenierung in große Gesten einzutauschen, bleibt Jhonny Hendrix weiterhin ganz nah bei seinen beiden Hauptfiguren, für die er die mit Alden Knigth und Verónica Lynn („Papa Hemingway in Kuba“) die Idealbesetzung gefunden hat. Der vollkommen ohne Schauspielerfahrung auskommende Knigth und die in ihrem Heimatland durchaus bekannte Lynn mimen das perfekte Ehepaar, das sich trotz des Alltagstrotts immer noch so sehr liebt, wie zu Beginn und nur einen Anlass benötigt hat, endlich wieder aus sich herauszukommen. Doch nicht nur im Zusammenspiel funktionieren die beiden hervorragend. Vor allem Verónica Lynn punktet in ihren Einzelszenen, etwa wenn sie hinreißend kubanische Balladen schmettert, in denen sie sich all den Frust von ihrer Seele singt, aber auch keinen Hehl daraus macht, wenn es Zeit ist, wieder fröhlichere Melodien anzustimmen. Doch auch Alden Knigth überzeugt im Alleingang: In seinen Konfrontationen mit dem Video-Dealer steckt jede Menge angestaute Wut, die der Schauspieler ganz ohne laut werden zu müssen hervorragend vermittelt. Einen kleinen erzählerischen Twist, bei dem gewisse Äußerungen von Seiten Victor Hugos das Publikum kurz auf eine falsche, schicksalhafte Fährte locken sollen, hätte es nicht gebraucht, um „Candelaria“ zusätzlich mit Spannung zu unterfüttern. Auch so erweist sich dieses unauffällige, aber umso packendere Drama ganz ohne Effekthascherei als eines der einprägsamsten Filmerlebnisse des Sommers.

Fazit: „Candelaria“ ist ein melancholisches Liebesdrama, das nicht nur davon erzählt, wie ein altes Ehepaar seine Liebe neu entfacht, sondern auch von dem Zustand eines Landes, das sich einst in derselben Position befand, die wie Hauptfiguren in diesem Film.

„Candelaria“ ist ab dem 5. Juli in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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