Eleanor & Colette

„Nachtzug nach Lissabon“-Regisseur Bille August erzählt in seinem neuen Film ELEANOR & COLETTE von einem Durchbruch in der medizinischen Selbstbestimmung, doch in seinem durch und durch generischen Drama kommt das Besondere daran gar nicht richtig zur Geltung. Mehr dazu verrate ich in meiner Kritik.
Der Plot
Eleanor Riese (Helena Bonham Carter) leidet an paranoider Schizophrenie und weiß, dass sie nur mit Medikamenten ein eigenständiges Leben führen kann. Wegen starker Nebenwirkungen fordert sie jedoch, ihre Medikation selbst mitzubestimmen. Als ihre Ärzte ihr das verweigern, heuert Eleanor die Anwältin Colette Hughes (Hilary Swank) an. In einem so gut wie aussichtslosen Verfahren stellen sich die beiden gegen ein übermächtiges Establishment aus Pharmaindustrie und Ärzten, schaffen es aber, ihren Fall bis zum obersten Gerichtshof zu bringen. Ein gemeinsamer Kampf um Gerechtigkeit, mit dem die ebenso exzentrische wie liebenswerte Eleanor das Leben der verbissenen Colette gehörig durcheinander bringt und der sie letztlich zu mehr macht als zu Mandantin und Klientin: Sie werden Freundinnen, die sich Halt geben, voneinander lernen und gegenseitig ihr Leben verändern…
Kritik
Innerhalb nur weniger Wochen hatte Bille Augusts auf wahren Ereignissen beruhendes Drama „Eleanor & Colette“ drei verschiedene Titel durch: Ursprünglich unter dem Namen „55 Steps“ angekündigt, wie der Film über das Thema medizinische Selbstbestimmung auch im Original heißt, über den zwar schwülstigen, aber zur Inszenierung nicht ganz unpassenden Titel „Wenn Dir Flügel wachsen“, einigte man sich im Deutschen nun auf ein nüchternes „Eleanor & Colette“, das die beiden Hauptfiguren Eleanor Riese und Colette Hughes auch namentlich noch einmal in den Fokus rückt. In der britisch-belgischen Koproduktion des gebürtigen Dänen geht es ja nicht zuletzt vor allem um eine ganz besondere Frauenfreundschaft – doch genau an dieser Stelle kommt es bereits zum ersten von vielen weiteren Problemen. Bille August zieht seine Geschichte erzählerisch eigentlich an einer weitaus intensiveren Thematik auf: Im Jahr 1985 zog die unter paranoider Schizophrenie leidende Eleanor Riese vor Gericht, um sich dort ein Mitspracherecht bei ihrer Medikation zu erkämpfen. Der Fall gelang bis vor den Supreme Court in Kalifornien und das Urteil, das Riese Recht gab, wurde zu einem Meilenstein der US-amerikanischen Medizingeschichte. All das findet in „Eleanor & Colette“ allerdings eher am Rande statt. Für Bille August („Nachtzug nach Lissabon“) steht in erster Linie das zunächst dysfunktionale, später jedoch mehr und mehr freundschaftliche Verhältnis zwischen den beiden vollkommen unterschiedlichen Frauen im Mittelpunkt. Und das macht seinen Film dann doch ziemlich austauschbar.
Bille August und sein Drehbuchautor Mark Bruce Rosin („Chatterbox!“) wissen, wie sie ihre Zuschauer direkt in die Geschichte hineinkatapultieren: Bereits die aller erste Szene gehört zu den intensivsten des kompletten Films, wenn Eleanor unter Anwendung grober menschlicher Kräfte hinter die geschlossenen vier Wände einer Gummizelle gesperrt wird. Über die Hintergründe (und entsprechend die Frage, ob eine derartige Gewalt möglicherweise gerechtfertigt ist, um die Patientin vor sich selbst und ihrer Umwelt zu schützen), wissen wir zu diesem Zeitpunkt noch nichts. Doch das, was danach folgt, macht unmissverständlich deutlich, dass hier dennoch ein großes Problem im System besteht: Eleanor wird der Gang zur Toilette ebenso sehr verweigert, wie die Möglichkeit eines Telefonanrufs. Und über den weiteren Verlauf dessen, was nun auf sie zukommt, wird sie ebenfalls nicht in Kenntnis gesetzt. Die Art und Weise, wie Bille August die zu damaligen Zeiten herrschenden Missstände im Gesundheitssystem stellvertretend an einem Beispiel aufzeigt, ist effektiv; und dank der kratzbürstigen Eleanor Riese, die es den Menschen um sie herum auch abseits ihrer psychischen Erkrankung schwerer macht, als nötig (und das ganz genau weiß!), ist August zu Beginn weit entfernt, sich mittels Tearjerking seinem Publikum anzubiedern. Er schildert, was geschildert werden muss, überdramatisiert nicht und hält sich auch inszenatorisch angenehm zurück, indem er auf emotionalisierende Musik ebenso verzichtet, wie eine Gefühle vorgebende Bildsprache. So weit, so stark.
Vor allem der behutsame Umgang mit Eleanor Riese, durch den die an Schizophrenie erkannte Frau nie zu einem Opfer gemacht wird, der über ihren gesundheitlichen Sstatus hinaus geht, gehört zu den starken Facetten an „Eleanor & Colette“. Trotzdem scheinen sich die Macher des Films irgendwann nicht mehr bewusst zu sein, wie viel sie zu Beginn eigentlich richtig machen. Je weiter es erzählerisch vorangeht, desto durchschnittlicher wird es inszenatorisch – und irgendwann rücken der Story eben doch die theatralischen Streicher (Annette Focks) zu Leibe, während sich in den Dialogen Aussagen wiederfinden, die das Geschehen in ihrer Dramatik um einige Spuren zu deutlich zu unterstreichen versuchen. Auch die Zeichnung von Anwältin Colette – die zweifelsohne einem realen Vorbild entlehnt ist – lässt all das vermissen, was an Eleanor so gut gelingt. Eleanor mag spleenig und anstrengend sein, doch in ihrer Charakterisierung steckt kein Konzept, sondern besitzt bis zum Schluss eine realistische Bodenhaftung. Colette dagegen wirkt wie der Stereotyp einer Hauptfigur aus genau so einem Film, wie „Eleanor & Colette“ einer ist: Sie ist ein Neuling auf ihrem Fachgebiet, überarbeitet sich, hat gesundheitliche Probleme (die sie für ihre Mandantin natürlich vollständig hintenanstellt) und lernt durch den Prozess und ihre Freundschaft zu Eleanor viel über sich selbst. Es mag eine echte Colette Hughes gegeben haben, doch in der hier von Hilary Swank („Logan Lucky“) verkörperten Form glaubt man an deren Existenz in dieser Form weit weniger, als an die eigentlich viel exzentrischere Eleanor Riese.
Während der Film den eigentlich so wichtigen Part der Gerichtsverhandlung mitsamt der viel wichtigeren Begründung für das abschließende Urteil im Eiltempo abhakt, verdichten sich die Emotionen in der letzten halben Stunde so sehr, dass „Eleanor & Colette“ im Finale vor Kitsch nur so trieft. Dass das Schicksal der echten Eleanor Riese im Anbetracht des schieren Ausmaßes an Erkrankungen tatsächlich sehr ergreifend ist, daran lässt vor allem die stark aufspielende Helena Bonham Carter („Alice im Wunderland: Hinter den Spiegeln“) keinerlei Zweifel. Doch Bille August reiht auf den letzten Metern ganz pflichtbewusst noch einmal alle Stationen aneinander, die es benötigt, um Eleanor Riese als strahlende Heldin aus ihrem Film zu entlassen. Im Anbetracht der Umstände ist gegen ein solch abschließendes Fazit per se überhaupt nichts einzuwenden – schließlich sorgte die Frau nicht bloß für Gerechtigkeit in ihrem eigenen Fall; stattdessen hatte das Urteil Auswirkungen auf das gesamte Gesundheitssystem. Doch Bille August findet nicht das richtige Maß und verliert ob seiner Verneigung vor Eleanor den medizinischen Aspekt vollkommen aus den Augen – und dass Colette Hughes ebenfalls einen entscheidenden Teil zu dem Urteil beigetragen hat, scheint er im Eifer des Gefechts sogar komplett vergessen zu haben.
Fazit: Das auf wahren Ereignissen beruhende Drama „Eleanor & Colette“ beginnt als packender Blick hinter die Kulissen eines maroden Gesundheitssystems. Doch so spannend die Ausgangslage auch ist: Mit der Zeit verliert Regisseur Bille August das Wesentliche aus den Augen und lässt seine Geschichte in allzu generisch-kitschigen Bahnen enden.
„Eleanor & Colette“ ist ab dem 3. Mai in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.