Pio

Unter amüsanten Umständen entstand die italienische Milieustudie PIO, in der unter anderem auch Regielegende Martin Scorsese seine Finger im Spiel hat. Mehr dazu und wie der Film geworden ist, das verrate ich alles in meiner Kritik.

Der Plot

Der 14-jährige Pio (Pio Amato) wächst in in einer italienischen Küstenstadt zwischen den einheimischen Dorfbewohnern, den Geflüchteten aus Afrika und seiner Roma-Community auf. Seine älteren Geschwister, die Tag für Tag durch die Gegend ziehen, einbrechen, stehlen und sich mit rivalisierenden Clans anlegen, verehrt er. Später möchte er einmal genau so sein wie sie, weshalb er sich bereits in jungen Jahren an kleineren Vergehen probiert, um endlich ernst genommen zu werden. Als sein großer Bruder Cosimo (Cosimo Amato) eines Tages spurlos verschwindet, wird Pios Leben auf eine harte Probe gestellt. Fortan ist er derjenige, der die Familie versorgen muss und beginnt, auf den Pfaden seiner Geschwister, Einbrüche zu begehen, Autos zu klauen und Reisende zu bestehlen. Doch irgendwo tief im Herzen weiß er, dass er das Lenkrad vielleicht noch rumreißen könnte, um nicht dort zu landen, wo seine Familie geendet ist…

Kritik

In seinem letzten Film „Mediterranea“ erzählte Regisseur Jonas Carpignano aus dem Leben zweier afrikanischer Migranten, die sich nach einer gefährlichen Reise aus ihrem Heimatland in der süditalienischen Stadt Gioia Tauro wiederfanden. Bei den Dreharbeiten zu dem 2015 fertiggestellten Drama lernten Carpignano und seine Crew den Amato-Clan kennen – eine Großfamilie der Roma, die den Filmemachern ihr Auto klauten. Aus diesem Ereignis heraus entstand die Idee, in seinem nächsten Projekt ein weiteres Schicksal eines aus der Gesellschaft Ausgeschlossenen zu erzählen; stellvertretend für eine ganze Gruppe an Menschen, der in Italien, speziell im (italienischen) Kino, kaum einer Beachtung schenkt. Für sein dokumentarisches Drama „Pio“ begab sich der Regisseur, unterstützt von Executive Producer und Financier Martin Scorsese („Silence“), zurück nach Gioia Tauro und folgt hier einem 14-jährigen Roma-Jungen auf Schritt und Tritt und gibt uns einen Einblick hinter die Kulissen des vor Ort berüchtigten Amato-Clans. Das Besondere: In „Pio“ spielen sich alles selbst – eine Erkenntnis, die das Gezeigte mit Einsetzen des Abspannes noch eine ganze Spur intensiver macht, als es ohnehin schon ist. Mit seiner Mischung aus Faszination und Abscheu vor dem Leben und den Methoden der Familie gelingt Jonas Carpignano eine intensive Milieustudie über das Leben am Rande von Legalität und Zivilisation.

Pio (Pio Amato) hat sich mit dem afrikanischen Flüchtling Ayiva (Koudous Seihon) angefreundet.

„Pio“ beginnt mit einer ganzen Handvoll atmosphärischer Szenen, die einfach nur ein Gefühl dafür geben sollen, was in der Welt der Amato-Familie normal ist. Da rauchen schon Kleinstkinder ganz selbstverständlich Zigaretten, werfen mit derben Schimpfworten um sich und wenn der 14-jährige Pio wenig später ein Polizeiauto stiehlt, sieht das nicht so aus, als würde der Teenie gerade zum ersten Mal hinter dem Steuer eines Fahrzeuges sitzen. Der Ton unter den Clan-Mitgliedern ist rau, doch obwohl sich nur ganz vereinzelt so etwas wie Sympathiebekundungen ausmachen lassen, ist das intensive Zusammengehörigkeitsgefühl innerhalb der Amatos doch allgegenwertig. Hier steht jeder für jeden ein – und auch, wenn es Pios Mutter gar nicht gern sieht, wenn nun auch dieser endgültig auf die schiefe Bahn gerät und das Geld aus seinem ersten Verkauf eines gestohlenen Autos auf den Küchentisch liegt, dann schwingt da doch immer auch Stolz mit; schließlich kommt das von Pio aufgetriebene Geld letztlich wiederum der Familie zugute. Familie bedeutet dem Amato-Clan alles. Nur so intensiv verbunden, wie es die Eltern, Großeltern, Brüder und Schwestern hier sind, lässt sich ein System wie das dieser hier geschilderten Roma-Familie überhaupt am Laufen halten. Sei es bei den Einbrüchen und Diebstählen, die grundsätzlich von einer ganzen Gruppe begangen werden, damit im Notfall nicht alle gefasst werden können, oder wenn es darum geht, nicht zu ihnen gehörende Gruppen und Familien außerhalb der Wohnungen und Baracken zu halten, weil sich hinter die Mauern des Clans ohnehin Niemand mehr traut.

Doch „Pio“ ist nicht ausschließlich das Porträt des ganzen Amato-Clans, sondern rückt vor allem den titelgebenden Pio in den Mittelpunkt. Inwiefern Jonas Carpignano sein Schicksal nutzt, um anhand dessen stellvertretend vom Leben vieler zu erzählen, oder ob er Pio als Ausnahmeerscheinung begreift, die bei all dem Leid um ihn herum dennoch versucht, das Beste aus seiner Situation zu machen, ist nicht immer ganz ersichtlich. Gleichzeitig entsteht hieraus aber auch der Reiz an der Geschichte; dem Publikum gibt der auch als Drehbuchautor zuständige Carpignano genügend Momente an die Hand, um Hoffnungsschimmer freizusetzen, aber auch, um Mitgefühl und entsetzen zu erregen; bis sich gen Ende endgültig erschließt, dass, wer einmal in diesem Clan groß wird, kaum eine Chance hat, sich aus diesem zu befreien. Es ist ein emotionales Auf und Ab zwischen Momenten stummer Erkenntnis und simplem Mitläufertum, das Pio hier an den Tag legt, um seinen älteren Brüdern zu gefallen. Und als Zuschauer weiß man nicht: Soll man dem Jungen nun die Daumen drücken, oder einfach einsehen, dass bei ihm die Aussicht auf ein normales Leben verloren ist? Der Regisseur urteilt nicht darüber. Ganz ohne erhobenen Zeigefinger versteht er seinen Film als wertfreie Milieustudie, allerdings nicht ohne Probleme innerhalb der diese ihrem Schicksal überlassenden, italienischen Gesellschaft anzureißen, auf die man gar nicht explizit verweisen muss, um deutlich zu machen, dass sie existieren und mit dafür verantwortlich sind, dass sich Parallelgesellschaften wie diese bilden können.

Pio und seine Familie finden sich jeden Tag zum gemeinsamen Mittagessen zusammen.

Der Amato-Clan wird in „Pio“ nicht als einziges Beispiel für eine solche zurate gezogen. Als Bindeglied zu „Mediterranea“ spielt auch das dort bereits aufgegriffene Flüchtlingscamp afrikanischer Migranten eine Rolle, was zu einem Wiedersehen mit Ayiva (Koudous Seihon) führt, der dort die Hauptrolle spielte. Für Pio wird die Freundschaft zu diesem zu einem wichtigen Strohhalm; eigentlich werden die afrikanischen Flüchtlinge nicht von seiner Familie akzeptiert, genauso sieht man außer Pio keinerlei andere Person enge Freundschaften zu Menschen aufbauen, die nicht den Amatos angehören. Die Beziehung zwischen den beiden, die bei aller Zuneigung auch von krummen Deals und Aggression geprägt ist; fast so, als seien menschliche Bindungen nicht möglich, wenn man nicht regelmäßig austestet, wie weit man beim Anderen gehen kann. Wie selbstverständlich all die Laiendarsteller das immer wieder äußerst fragwürdige Verhalten ihrer selbst verkörpern, ist in „Pio“ letztlich aber das Beeindruckendste. Alle Familienmitglieder der Amatos spielen einfach nur sich selbst – wenn am Ende des Films sämtliche Namen noch einmal aufgeführt werden, erkennt man erst, dass „Pio“ dem Dokumentarfilm viel näher ist, als dem fiktionalen Drama. Dazu passt auch, dass der Regisseur jedem noch so widersprüchlichen Handeln Raum einräumt; den Vergehen der jüngeren Amatos stellt er die Geschichten des Großvaters gegenüber, der von alten Zeiten erzählt und den Lebenswandel seiner Familie nicht gutzuheißen scheint. Die Inszenierung passt sich dem an: „Pio“ sieht nicht bewusst inszeniert aus, sondern folgt mit seinem Look den unverfälschten Bildern einer Dokumentation, von der sich nur Traumsequenzen mit einem tanzenden Pferd abgrenzen; um in diesem Moloch aus Angst, Gewalt, Hass und Hoffnungslosigkeit wenigstens ein bisschen was Schönes zu finden.

Fazit: Mit „Pio“ liefert Regisseur Jonas Carpignano einen ungeschönten Einblick in die Gesellschaft eines auch in Wirklichkeit existierenden Roma-Clans im Süden Italiens, bei dem er bei aller Drastik das Urteil über derartige Zustände dem Zuschauer überlässt. Nur so gelangt er besonders nah an die von sich selbst verkörperten Mitglieder der Amato-Familie heran und schafft es, uns ein Gefühl dafür zu geben, weshalb Menschen so sind, wie sie sind – selbst, wenn sie so sind wie hier.

„Pio“ ist ab dem 5. April in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

Und was sagst Du dazu?