Das Löwenmädchen

Eine Geschichte darüber, wie eine Außenseiterin ihren Platz im Leben findet, erzählt die norwegische Regisseurin Vibeke Idsøe in ihrem Drama DAS LÖWENMÄDCHEN, das mit internationalen Stars besetzt ist, jedoch trotz seines Titels überraschend zahnlos ausfällt. Mehr dazu in meiner Kritik.
Der Plot
In einer kleinen Provinzstadt in Norwegen kommt im Winter 1912 ein Mädchen (Aurora Lindseth-Løkka) zur Welt, dessen ganzer Körper von feinen blonden Härchen bedeckt ist. Für die damalige Wissenschaft ein kurioser, ein interessanter Fall. Evas Mutter stirbt bei der Geburt und ihr Vater, der Stationsmeister Arctander (Rolf Lassgård), will zunächst von dem „Löwenmädchen“ nichts wissen. Doch die kleine Eva wächst heran (als Jugendliche: Mathilde Thormine Storm). Abgeschottet und versteckt vor der Neugier der Außenwelt, erschafft sie sich ihre eigene Welt, bis sie eines Tages den Mut findet, der Enge ihres Lebens zu entfliehen (als junge Frau: Ida Ursin-Holm). Doch ihr Umfeld steht der Frau und ihrem aufkeimenden Selbstbewusstsein immer wieder im Wege.
Kritik
Jemanden dazu zu motivieren, an sich selbst zu glauben und nie die Hoffnung aufzugeben, ist leicht gesagt, wenn derjenige „nur“ unter einem mangelnden Selbstbewusstsein leidet. Doch was tun, wenn sich Jemand in seinem Handeln oder Aussehen so weit von der von der Menschheit bestimmten Norm entfernt, dass Außenstehende zwangsläufig starren und tuscheln müssen, weil sie so etwas in ihrem Leben noch nie gesehen haben? Diese Ausgangslage nutzte der norwegische Schriftsteller Erik Fosnes Hansen 2008 für seinen Roman „Das Löwenmädchen“, in dem es um ein aufgrund seiner Behaarung stigmatisiertes Mädchen geht, das 1912 (und damit weit vor jedweder moderner medizinischer Aufklärung) in der norwegischen Provinz aufwächst und sich dort der feindseligen Umwelt ausgesetzt sah. Dabei beobachtet Hansen seine liebenswürdige Protagonistin nicht bloß beim Buhlen um die Gunst ihres Vaters und Knüpfen vorsichtiger Freundschaften, sondern streift auf ihrem Weg Richtung Selbstständigkeit diverse vorgezeichnete Stationen von der Freakshow bis zum medizinischen Versuchslabor. Im gleichnamigen Spielfilm von Vibeke Idsøe („Karlsson vom Dach“) ist das in den besten Momenten dramatisch, was sich vor allem auf die Illustration der entsprechenden Szenen bezieht. Erzählerisch geht die Autorenfilmerin indes nicht mehr Risiko ein als nötig, worunter die Dramatik der Geschichte spürbar zu leiden hat.
Der Star des Films ist zweifelsohne das titelgebende „Löwenmädchen“, das im Verlauf der chronologisch erzählten Geschichte vom kleinen Kind bis hin zur erwachsenen Frau von insgesamt drei verschiedenen Darstellerinnen verkörpert wird. Das kann man – gelinde gesagt – kaum glauben, denn beim Casting haben die Verantwortlichen ein derartiges Fingerspitzengefühl bewiesen, dass man zweifellos davon ausgehen könnte, dass man hier tatsächlich einer einzigen jungen Frau beim Aufwachsen zusieht. Die Übergänge zwischen den einzelnen Altersklassen verlaufen somit reibungslos, was nicht zuletzt auf die fantastische Arbeit der Maskenbildner zurückzuführen ist. SFX Make-Up-Artist Conor O’Sullivan zeichnete bereits bei Hollywoodproduktionen wie „The Dark Knight“, „X-Men“ sowie der HBO-Erfolgsserie „Game of Thrones“ für die Arbeit an aufwändigen Maskeraden verantwortlich. In „Das Löwenmädchen“ stellte ihn das dichte Fell vor eine große Herausforderung, das eben nicht wie eine Maske, sondern wie echtes Fell aussehen musste, um die Illusion einer vollständig mit dem Körper verwachsenen Behaarung aufrecht zu erhalten. Während das ganz zu Beginn, wo die die kleine Eva noch als Säugling zu sehen ist, noch nicht ganz so reibungslos gelingt, glaubt man kurz darauf sofort an die Authentizität ihres Aussehens und kommt dem Leiden des von ihrer Umgebung belächelten Mädchens somit direkt ein Stückchen näher.
Leider geht die Regisseurin bei der Darstellung ebenjenen Leidens recht schematisch vor und zeigt ausschließlich Dinge, von deren Darstellung von Beginn an zu rechnen ist. Das beginnt bei der Ablehnung des Vaters über die verächtlichen Blicke der Nachbarschaft, vor der Evas Familie das kleine Mädchen ständig zu verstecken versucht bis hin zu fiesen Hänseleien in der Schule. Nun möchte man sagen, dass all das vermutlich passieren würde, wenn eine unaufgeklärte Gesellschaft auf eine Gestalt wie Eva trifft – und zum damaligen Zeitpunkt Anfang des 20. Jahrhunderts ist dieses Verhalten auch gar nicht so weit hergeholt. Doch die Filmemacherin und Drehbuchautorin spult ihr Repertoire standardisierter Abneigungsbekundungen so routiniert herunter, dass man letztlich zwar mit dem Mädchen selbst mitleidet (dafür agieren die Darstellerinnen in ihrer Rolle einfach viel zu authentisch), jedoch zu jeder Sekunde erahnt, worauf die Geschichte hinaus läuft und auch, woher die Macher ihre Motivation nehmen, eine solche Geschichte zu inszenieren. Sie wollen appellieren: an Menschlichkeit, an Fairness und daran, jeden Menschen gleich zu behandeln. Ein ehrenwertes Anliegen, das Niemand aus dem Team je aus den Augen verliert. Doch leider kommt „Das Löwenmädchen“ im Laufe seiner satten 126 Minuten nicht über den ebenso harmlosen wie platten Charme eines Weihnachtsmärchens hinaus. Die Figuren bleiben eindimensional und somit sind auch ihre moralischen Positionen innerhalb der Geschichte klar vorgegeben. Die Geschichte eckt nie an, folgt klar ihrem Auftrag und nimmt sich dabei das Potenzial, viel weiter zur Seele der Protagonistin durchzudringen, bei der selbst eine anklingende Rebellion genau vorgefertigt klingt.

Ken Duken trägt mit seiner Rolle des Andrej viel dazu bei, dass „Das Löwenmädchen“ in der zweiten Hälfte nicht ermüdet.
Das zieht sich bis zu zwei Stationen, mit denen im Laufe der Geschichte immerhin ein bisschen Aufregung ins Geschehen kommt. Passend zur damaligen Zeit macht Eva auf ihrem Weg in Richtung Erwachsensein Halt in einer Freakshow und gibt sich als medizinisches Versuchsobjekt her. Vor allem hier gelingt es Vibeke Idsøe erstmals, ihrer Geschichte Tragweite zu verleihen – die Kulisse des kleinen norwegischen Dorfes ermüdet sich nämlich überraschend schnell, was auch damit zusammenhängt, dass Idsøe hier ausschließlich Klischees bedient und exakt solche Charaktere in ihrer Geschichte unterbringt, wie man sie in einem solchen Film erwarten würde. Vor allem dem internationalen Cast ist es zu verdanken, dass man es sowohl in dem Kuriositätenzirkus, als auch auf der Mediziner-Versammlung mit einigen interessanteren Figuren zu tun bekommt. Vor allem der schwer durchschaubare Andrej (Ken Duken) wirkt faszinierend und bietet dem Zuschauer einen spannenden Blick auf die Figur der Eva und wie sie in den Augen anderer „Ausgestoßener“ wahrgenommen wird. Während der Ärztekongress als surreal-böser Ort dargestellt wird (in einer der beklemmendsten Szenen muss sich Eva unbekleidet und im Scheinwerferlicht auf einer Bühne den anwesenden Medizinern präsentieren), präsentiert sich die Freakshow als entrücktes, faszinierendes Sammelsurium nicht minder aufregender Wesen und Figuren, wobei der Sinn und Zweck eines solchen Etablissements überraschend zahm infrage gestellt wird, steht hier in erster Linie Evas emotionale Verfassung im Mittelpunkt, die durch die Freakshow endlich auf Leidensgenossen trifft. An dieser Stelle entwickelt „Das Löwenmädchen“ eine von Abscheu und Faszination durchzogene Atmosphäre – und damit erstmals sowas wie Ambivalenz. Schade, dass der Film abseits dieser Szenen nicht viel mehr zu bieten hat.
Fazit: Vibeke Idsøes Familiendrama „Das Löwenmädchen“ hat den puppenhaft-warmherzigen Charme eines Weihnachtsmärchens, doch die Regisseurin holt aus der dramatischen Geschichte um ein von der Gesellschaft ausgestoßenes Mädchen nicht mehr heraus, als von Klischeefiguren vorgetragene Plattitüden. Schade – die fantastischen Hauptdarstellerinnen hätten Besseres verdient.
„Das Löwenmädchen“ ist ab dem 14. September in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.