Schneeflöckchen

Noch hat die abgedrehte Meta-Actionkomödie SCHNEEFLÖCKCHEN keinen offiziellen Kinostart, doch wer die Gelegenheit bekommt, die Mindfuck-Groteske beim Fantasy Filmfest zu erleben, wird dies ganz gewiss nicht bereuen. Mehr dazu in meiner Kritik.
Der Plot
Die deutsche Hauptstadt Berlin in naher Zukunft: Die zwei Gesetzlosen Tan (Erkan Acar) und Javid (Reza Brojerdi) suchen den Mann, der ihre Familien auf dem Gewissen hat. Ihre Suche gerät ins Stocken, als die beiden das Drehbuch zu genau dem Film finden, in dem sie sich selbst gerade befinden. Das geheimnisvolle Drehbuch eines verrückten Zahnarztes namens Arend Remmers (Alexander Schubert) bereitet die Bühne für zwei Freunde, die sich mehr Sorgen über ihren Döner als ihr Leben machen; du wirst Gott begegnen, der gerne Ravioli aus der Dose isst, einem hoffnungslos hoffnungsvollen Engel (Judith Hoersch), einen hyper-elektrischen Superhelden (Mathis Landwehr), sowie kannibalistische Auftragskiller und einen furchtbar gehorsamen Android Prototypen.
Kritik
Das deutsche Genrekino steckt in einer gewaltigen Krise. Das wissen wir alle und daher wäre es auch ziemlich langweilig, eine Review zu einer national produzierten Action-Komödien-Dystopie (!) mit dieser ewig gleichen Erkenntnis zu beginnen. Denn ob man es möchte oder nicht: Setzt man einen gelungenen Film dieses Segments in den Kontext dazu, dass die Konkurrenz desselben ohnehin nicht allzu groß ist, schmälert das unweigerlich und von vornherein den Gesamteindruck. Nun hat Adolfo Kolmerers „Schneeflöckchen“ jedoch einen begehrten Startplatz beim diesjährigen Fantasy Filmfest ergattert – und das gelingt beileibe nicht jedem deutschen Film (allein in den vergangenen vier Jahren nämlich gerade einmal vier weiteren Produktionen gelungen). Damit findet sich Kolmerers Werk, das für ihn zugleich das Langfilmdebüt darstellt, in einer Reihe mit provokanten Produktionen wie „German Angst“ und „Der Bunker“, sowie Martin Schreiers „Robin Hood“-Interpretation wieder, die sich allesamt einen gewissen Kultstatus erarbeiten konnten. „Schneeflöckchen“ ist auf dem Weg, sich Ähnliches zu erarbeiten, denn trotz beschränkter Budgetmittel, die im deutschen Genrefilm ja fast schon zum guten Ton gehören, sowie einiger nicht ganz nachvollziehbarer inszenatorischer Entscheidungen, ist die Idee hinter dem mit jeder Menge Meta-Spielereien versehenen Schurkenstück so innovativ und abgedreht, dass man den Film einfach gesehen haben muss, um sich davon zu überzeugen, dass das deutsche Genrekino eben noch lange nicht tot ist.

Alexander Schubert spielt Arend Remmers, Autor von „Schneeflöckchen“ – sowohl im Film, als auch in Wirklichkeit.
Zugegeben: So innovativ ist die Idee gar nicht, denn wer im vergangenen Jahr die ebenfalls alles andere als schematisch inszenierte Komödie „Unsere Zeit ist jetzt“ gesehen hat, der bekam in einer Szene bereits ein Gespür dafür, dass es Drehbuchautor Arend Remmers‘ ganz persönliche Passion zu sein scheint, mit den Verschiebungen der Zuschauer-Wahrnehmung zu spielen: In seinem „Cro-Film“ beobachtet er einen Nachwuchsautoren dabei, wie dieser das Skript zu genau jenem Film inszeniert, der in dem Episodenfilm „Unsere Zeit ist jetzt“ eine von drei Episoden darstellt. In der besten Szene liefert sich der Schreiber eine Auseinandersetzung mit Schauspieler Til Schweiger höchstpersönlich, der die Rolle des gealterten Cro übernimmt, dabei aber darunter zu leiden hat, dass der Autor seine Arbeit einfach nicht fertiggestellt bekommt. „Schneeflöckchen“, ebenfalls von Arend Remmers geschrieben, der hier sogar persönlich vorkommt, jedoch wiederum von Alexander Schubert („Bullyparade – Der Film“) verkörpert wird, perfektioniert diese metaphorische Idee vom im Film auftauchenden Drehbuch des Films selbst und beobachtet im Hauptplot zwei Schmalspurganoven dabei, wie diese realisieren, dass sie Teil genau dieses Films sind. Dabei gehören gerade jene Momente zu den stärksten, in denen Tan und Javid verzweifelt versuchen, das Skript auszutricksen – doch wann immer ihnen das Drehbuch offenbart, dass auch diese kläglichen Versuche zum Skript dazugehören, dreht sich nicht nur in den Köpfen der Protagonisten alles um sich selbst, sondern auch in denen der Zuschauer.
Durch diese Prämisse lässt sich „Schneeflöckchen“ eines schon mal gewiss nicht vorwerfen: Vorhersehbarkeit. Denn obwohl die beiden Hauptfiguren schon früh auf die Idee kommen, die letzte Seite des Skripts zu lesen und so im Grunde den Ausgang der Geschichte spoilern, so ist es doch gerade dieses vermeintliche Wissen, das den Ablauf der Geschichte umso weniger kalkulierbar macht. Ohne nun zu verraten, was genau am Ende des Films auf Tan und Javid warten soll, ergibt sich einer der Hauptreize an „Schneeflöckchen“ aus dem ständigen Kampf zwischen Wissen und Nichtwissen. Den Protagonisten und Zuschauern ist bewusst, was kommt, doch je abstruser der Handlungsverlauf, desto mehr scheint möglich. Das beginnt schon bei den Figuren, die im Laufe der kurzweilig inszenierten zwei Stunden den Weg des Gangster-Duos kreuzen: Von skurrilen Hinterwäldlern über gewissenhafte Superhelden bis hin zu kämpferischen Rache-Amazonen offenbart sich in „Schneeflöckchen“ ein Potpourri verrückter Charaktere, die alle eines eint: Irgendwie stehen sie im Zusammenhang damit, was in naher Zukunft aus der Hauptstadt Berlin geworden ist. Eine Montage aus fiktiven Nachrichtenbildern und Augenzeugenberichten scheint darüber Aufschluss zu geben, doch erst mit der Zeit verdichten sich die rudimentären Informationen zu einem richtigen Eindruck und noch später erst zeigt sich, dass sämtliche hier auftretenden Figuren etwas verbindet. Was das genau ist, sei an dieser Stelle natürlich nicht verraten.
Wenngleich all diese überbordenden Einfälle im letzten Drittel zu einer Form finden und sich jedes Puzzleteil an die für es vorgesehene Stelle fügt, so lässt sich doch nicht leugnen, dass es gerade zu Beginn nicht immer leicht ist, dem Geschehen zu folgen. Am Plot um Tan und Javid kann man sich einfach nicht satt sehen, doch der rachedurstig auf die beiden Jagd machenden Eliana („Tschick“) fehlt es zu Beginn an Profil; erst nach und nach zeigt sich, wie die beiden Handlungsstränge miteinander zusammenhängen. Bis dahin macht „Schneeflöckchen“ manchen Leerlauf durch, der jedoch spätestens von der nächsten absurden Aktion der beiden Kleingeister ausgeglichen wird. Darüber hinaus erschließt sich nicht vollends, weshalb einige Szenen auf Englisch inszeniert wurden, denn die Leistungen der Schauspieler geraten auf Deutsch weitaus überzeugender. Ein weiteres Manko sind die Effekte. Zwar gibt es davon lediglich eine Handvoll – die Schießereien und Martial-Arts-Choreographien geraten in ihrer handgemachten Attitüde äußerst haptisch und mitreißend (eine Kamerafahrt, in der sich das Blut eines Opfers auf die Flügel des titelgebenden „Engels“ Schneeflöckchen niederlegt, kann es in ihrem Verständnis für brutale Ästhetik mit Quentin Tarantino aufnehmen) – doch gerade dadurch wirken sie mitunter wie Fremdkörper in einem sonst sehr dreckig und authentisch daherkommenden Setting. Viel wichtiger als derartige Schönheitsfehler sind jedoch die Schauspielleistungen. Und hier ist den Verantwortlichen gerade mit Reza Brojerdi („Immigration Game“) und Erkan Acar („The Key“) ein echter Glücksgriff gelungen. Die beiden sind zwar dämlich und mitunter äußerst brutal, haben das Herz jedoch am rechten Fleck und haben damit das Potenzial, genau wie der Film selbst, in wenigen Jahren Kult zu sein.
Fazit: Spike Jonze trifft auf Tarantino: Adolfo Kolmerer gelingt mit „Schneeflöckchen“ ein abgefahrener Meta-Trip, auf dem zwei kleingeistige Ganoven ihr eigenes Drehbuch umschreiben und nebenbei blutige Rache nehmen wollen. Das ist kreativ, absurd, wahnwitzig und brutal – kleinere Abzüge in der B-Note nehmen wir für so viel Mut zur Innovation gern in Kauf.
„Schneeflöckchen“ ist in diesem Jahr auf dem Fantasy Filmfest zu sehen.
STUTTGART: Donnerstag / 14.09.17 / 22:30h / Metropol FRANKFURT: Freitag / 15.09.17 / 14:00h / Cinestar Metropolis BERLIN: Freitag / 15.09.17 / 18:30h / Cinestar Sony Center MÜNCHEN: Samstag / 16.09.17 / 15:15h / CineMaxx Isartor HAMBURG: Sonntag / 17.09.17 / 12:30h / Savoy Filmtheater KÖLN: Samstag / 23.09.17 / 14:00h / Residenz Astor Film Lounge NÜRNBERG: Samstag / 30.09.17 / 12:30h / Cinecitta