Censor

Ein britischer Horrorfilm über die Zeit, in der in Großbritannien zahlreiche Horrorfilme verboten und noch mehr Horrorfilme massiv zurechtgeschnitten wurden: Weshalb CENSOR ein Muss für Genrefans ist, verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Das Jahr 1985 in Großbritannien: Konservative Stimmen sind in Hysterie. Denn laut ihnen verdirbt eine neue Welle der mitunter direkt auf Video erscheinenden, ultrabrutalen (Billig-)Horrorfilme die Gesellschaft. Daher wird die Belegschaft des British Board Of Classification (BBFC) dazu angehalten, neu eingereichte Filme besonders streng zu beäugen und selbst für die höchste Altersfreigabe großzügige Zensurschnitte zu fordern. Für Enid Baines (Niamh Algar) ist das ein Leichtes: Sie schaut selbst die härtesten Filme gelangweilt runter und notiert sich dabei weitreichend Passagen, die sie als amoralisch und abscheulich einstuft und daher zensieren lässt. Doch als ihre Eltern ein noch nicht überkommenes Traum wachrütteln, indem sie Enid an das spurlose Verschwinden ihrer Schwester erinnern, gerät Enids Leben ins Schlingern. In den Horrorfilmen, die sie sichten muss, erkennt sie immer mehr von ihrem Leben wieder. Und ihr Leben erinnert sie immer mehr an Horrorfilme.
Kritik
Es bleibt ein riesiges Rätsel, wie Filmfans beklagen können, dass „heute ja nichts mehr erlaubt sei“. Denn zumindest in den meisten westlichen Filmmärkten leben wir in einem filmkulturellen Klima, das aufgeschlossen ist. Während im jungen Nachkriegsdeutschland scheue Doris-Day-Komödien mitunter eine FSK ab 16 oder gar 18 Jahren erteilt bekommen haben, weil Dialoge mit stark codierten Doppeldeutigkeiten die Entscheidungsträger erschütterten, waren es in den Achtzigerjahren vor allem Horrorfilme, auf die Moralhüter:innen es abgesehen hatten. In der von einer damals noch lautstärker urteilenden und kulturell einflussreicheren christlichen Kirche geprägten Gesellschaft sorgte die Horrorflut für große Skandale. Zahlreiche Filme wurden beschlagnahmt, indiziert oder erhielten ihre Freigabe ab 18 Jahren nur nach massiven Kürzungen. Mittlerweile werden Jahr für Jahr mehrere Filme von diesem Schlag neu geprüft, verschwinden vom Index und bekommen teilweise sogar eine FSK ab 16 Jahren (oder – wenngleich das eher im Actionfach statt im Horrormetier passiert – noch weniger!) zugesprochen. Dinge, die damals undenkbar waren. Nicht nur in Deutschland. Großbritannien etwa war in der Anti-Horror-Hysterie ebenfalls ganz vorne mit dabei und daher auch bei den lautstarken Forderungen nach mehr Zensur, um die Kinder, ach, die Gesellschaft generell zu beschützen.
Bei den Briten wurde dafür der Begriff „Video Nasties“ bekannt. Der Terminus wird gemeinhin für die Flut an extremen Horrorfilmen genutzt sowie für die kulturelle Debatte rund um sie – aber es gab auch eine offizielle Liste von Video Nasties. Auf der befanden sich Video-Veröffentlichungen von Filmen, die man nicht als Obszönität verbieten konnte – aber über einen anderen Paragraphen sehr wohl konfiszierte. Zu diesen Filmen zählen unter anderem „Christmas Evil“ (mittlerweile in UK ab 15 Jahren freigegeben), Romeros „Dawn of the Dead“, das „Suspiria“-Original und „Das Haus mit dem Folterkeller“ (bei den Briten ebenfalls mittlerweile ab 15). Regisseurin/Autorin Prano Bailey-Bond und Autor Anthony Fletcher, beide bislang ausschließlich für Kurzfilmprojekte verantwortlich, versetzen uns mit ihrem Spielfilmdebüt „Censor“ mitten hinein in den Video-Nasties-Wahn – und bieten uns einen hübschen ironischen Wink dessen, wie sich die Kultur seither gewandelt hat. Denn ihr Psychohorror mit vereinzelten Gewaltspitzen, die in den mittleren 1980er-Jahren diesem Film noch Probleme mit der BBFC beschert hätten, wurde mit britischen Fördergeldern finanziert. Als wäre die Rehabilitierung zahlreicher Video-Nasties-Titel also nicht genug, jetzt gönnt sich der einst verbotene Stil des 80er-Horrors auch noch eine staatlich geförderte Ehrenrunde in Form einer Hommage!
„Regisseurin/Autorin Prano Bailey-Bond und Autor Anthony Fletcher, beide bislang ausschließlich für Kurzfilmprojekte verantwortlich, versetzen uns mit ‚Censor‘ mitten hinein in den Video-Nasties-Wahn – und bieten uns einen hübschen ironischen Wink dessen, wie sich die Kultur seither gewandelt hat.“
Die geht jedoch nicht den simpelsten Weg. Es wäre zu einfach, sich vor dem Horror, den britische Konservative ersticken wollten, durch reine Kopie zu verneigen. Oder durch eine Art metafiktionalen Rachefilm, in dem Jemand oder Etwas Mitglieder der britischen Freigabebehörde abmetzelt (wobei wir diese Idee auch irgendwie reizvoll finden…). Stattdessen begegnet Bailey-Bond den Damen und Herren von der Zensur auf nuancierte Weise: Manche zeichnet sie als dauerempört, andere sind auf der Seite der Filmschaffenden und argumentieren dafür, nicht die Schere anzusetzen. Und wieder andere scheinen einfach nur angemessene Freigaben finden zu wollen und werden nun vom Erwartungsdruck, hart durchzugreifen, überrollt. Protagonistin Enid dagegen ist eine ganz seltsame Kombi: Völlig abgebrüht schaut sie sich die Filme mit rollenden Augen und Abscheu an. Ohne dass sie das Gezeigte schockieren würde, verurteilt sie die Köpfe hinter diesen Filmen als amoralisch und abscheulich. Jedenfalls, bis ihre Eltern ein altes Trauma aufwühlen. Nun leidet sie auf einmal intensiv mit – und obwohl sie sich von der Faszination dieser Filme aufsaugen lässt, reagiert sie zunehmend ungehaltener auf sie.
Niamh Algar („Cash Truck“) verkörpert diese schwer verständliche Frau voller charakterlicher Widerhaken mit einer faszinierend-stoischen Haltung, sodass einen Enids emotionalen Ausbrüche und nach und nach eskalierenden irrationalen Phasen umso härter erwischen. Ihr gelingt es, Enid durchweg in dieser Filmwelt plausibel zu halten, obwohl sie völlig unnahbar ist und nur selten nachvollziehbar handelt. Enids Charakter ist somit das wahre Mysterium des Films und seine Triebfeder, während Enids Untersuchung des Falls ihrer verschwundenen Schwester quasi nur das Sprungbrett ist, um in dieses atmosphärische Psychogramm abzutauchen. Bailey-Bond und Kamerafrau Annika Summerson („Mogul Mowgli“) tauchen diesen Stoff in eine zumeist betont karge, trostlose Ästhetik, die das Desolate an Enid verdeutlichen. Aber immer wieder wabern stylischere Züge durch „Censor“, bis sie diese Produktion, die zwischen 8mm-Film, 35mm-Film und Shot-on-Video springt, letztlich völlig übernehmen. Doch das, was „Censor“ übernimmt, ist eklektisch: Von ruhigen, stabilen Aufnahmen mit geisterhafter Stimmung und dem Blau-Pink-Kontrast etwas hochwertigerer Produktionen bis zum grobkörnigen Bildrauschen und den alles verschluckenden Schatten unterbelichteter Billigfilmen ist alles dabei. Stets abhängig davon, was in Enids Kopf gerade vorgeht. Dieser mentale Absturz Enids braucht seine Zeit, um in Gang zu kommen, bevor er dann zügig und mitreißend abläuft. Einen Mindscrew-Ritt sollte man also nicht erwarten, eher einen atmosphärischen Psychohorror mit reißerischen Gewaltspitzen – und vor allem mit einem hervorragenden Sounddesign: Statisches Rauschen weckt Videokassetten-Erinnerungen und sorgt für eine angespannte Grundakustik, mehrmals lassen knarzende und mechanische Soundeffekte das Mark erschüttern, ohne dass es je billige Schreckmomente wären.
„Bailey-Bond und Kamerafrau Annika Summerson tauchen diesen Stoff in eine zumeist betont karge, trostlose Ästhetik, die das Desolate an Enid verdeutlichen. Aber immer wieder wabern stylischere Züge durch ‚Censor‘.“
Prano Bailey-Bond adaptiert als nächstes die Kurzgeschichte „Things We Lost in the Fire“ über eine weibliche Gemeinde, die extreme Maßnahmen gegen männliche Bedrohungen ergreift. Wir freuen uns schon drauf – und bis der Film fertig ist, könnte man ja ein paar Video-Nasties-Titel nachholen und/oder erneut schauen. Lust drauf macht „Censor“ definitiv.
Fazit: „Censor“ ist ein Muss für Genrefans, die sich mit zeitlichem Abstand und kritischer Distanz, doch auch mit Empathievermögen, den Köpfen hinter der Video-Nasties-Hysterie nähern wollen. Doch sie sollten keine Gewaltorgie erwarten: Dies ist ein atmosphärischer Psychothriller, kein Tabubruch am laufenden Band. Was ja durchaus zum Thema passt.
„Censor“ ist ab dem 29. Juli 2021 in den Kinos zu sehen.