Blue My Mind

Mit BLUE MY MIND läuft nun das mehrfach preisgekrönte Langfilm-Regiedebüt der Schweizer Schauspielerin Lisa Brühlmann in den deutschen Kinos an. Was sie Luna Wedler durchleben lässt und wie das geworden ist, verraten wir in unserer Kritik …
Der Plot
Die 15-jährige Mia (Luna Wedler) ist zusammen mit ihren Eltern umgezogen, und so beginnt für sie der Spießrutenlauf, sich in der neuen Schule einzuleben: Ein Image pflegen, Anschluss finden, Freundschaften knüpfen. Sie will bloß nicht als Langweilerin abgestempelt werden, weshalb sie sich den Störenfrieden in der Klasse annähert – den aufgedonnerten Markenklamottenträgerinnen und ihren durchtrainierten, wortkargen Kumpeln. Parallel dazu sondert sich Mia von ihren Eltern ab. Sie missachtet zunehmend Bitten und Regeln, durchwühlt unerlaubt die privaten Sachen ihrer Eltern, fängt sogar an, zu hinterfragen, ob sie überhaupt in diese Familie gehört. Doch nicht nur charakterlich verändert sich Mia, sondern auch körperlich, was sie eingangs verwundert und zunehmend verängstigt. Sie fühlt sich fehl am Platze, sie hat Angst, dass ihre Mitschülerinnen und Mitschüler von ihren körperlichen Eigenheiten Wind bekommt. Und trotzdem will sich Mia nicht von ihren neu entdeckten, abenteuerlichen Freundinnen und Jungsbekanntschaften abkoppeln. Also stürzt sie sich immer weiter in Partys, pubertären Schabernack und erste sexuelle Erfahrungen. Aber nur, weil sie versucht, ihre körperlichen Veränderungen zu ignorieren, heißt das nicht, dass diese aufhören …
Kritik
Eine stille Außenseiterin hat keine Lust, sich an ihrer neuen Schule ausgrenzen zu lassen und vollführt daher eine 180-Grad-Wende: Zunächst streift Mia (Luna Wedler, „Das schönste Mädchen der Welt“) orientierungslos durch den Klassenverband und wird daher von Gianna (Zoë Pastelle Holthuizen, „Amateur Teens“) und ihrer Squad gemobbt. Doch Mia lässt sich von den Lästerschwestern und den Poser-Typen rund um Gianna nicht einschüchtern. Stattdessen geht sie in die Offensive und bändelt mit ihnen an. Dadurch eröffnet sich für die zurückhaltende, verschlossene Mia eine neue Welt: Gianna zeigt Mia Pornos. Sie bringt ihr bei, wie man sich in einen ekstatischen Traumzustand würgt und erstellt Mia ein falsche Altersangaben machendes Profil auf einer Flirtseite. Gianna und ihre Clique trinken massig Alkohol – und Mia schließt sich diesem Verhalten an. Auch andere Drogen werden in dieser Gruppe konsumiert, und selbstredend wird unverblümt über Sex gesprochen, ein Thema, mit dem sich die verschlossene Mia zuvor nie so wirklich befasst hat – was sich aber bald radikal ändern sollte. Was in einen verkrampft-wilden, kreischenden Film wie „Tigermilch“ münden könnte, der bemüht versucht, ein ausgelassenes Teenie-Jugendgefühl einzufangen und dabei in erschöpfende Monotonie verfällt, ist unter der Regie der Schweizerin Lisa Brühlmann zu einer einfühlsamen, bildgewaltigen Coming-of-Age-Allegorie geworden.
So zeigt die Schauspielerin, die hiermit ihr Langfilm-Regiedebüt abliefert und auch das Drehbuch zu „Blue My Mind“ verantwortet hat, das Grenzenaustesten ihrer Teeniefiguren ohne wertendes Element. Weder glorifiziert sie das Treiben inszenatorisch, wie es Ute Wieland in „Tigermilch“ über weite Strecken tut, noch schwingt ein mahnender Zeigefinger mit. Brühlmann hält kleine Regelüberschreitungen wie Ladendiebstahl, Teenie-Rebellentum wie das Durchwühlen des elterlichen Schlafzimmers und auch Partyexzesse in leicht distanzierten Kameraeinstellungen ein. Die Szenen laufen ruhig ab, nur selten zieht die kühl-verschnörkelte Filmmusik von Thomas Kuratli Aufmerksamkeit auf sich, Cutterin Noëmi Preiswerk lässt einzelne Sequenzen zumeist in wenigen, längeren Einstellungen ablaufen, beendet Szenen aber zuweilen abrupt und steigt oftmals unvermittelt in die nächste Szene ein. So lässt Brühlmann ihrem Publikum genügend Raum, sich selbst ein Urteil über Mias Wandlung zu machen, hält aber gleichermaßen das Erzähltempo hoch. Wie sehr sie hilflose Mitläuferin ist, ein Mauerblümchen, das gelernt hat, aus sich herauszugehen, eine völlig normale Jugendliche oder doch jemand Ungewöhnliches, überlässt Brühlmann zu einem guten Teil der Wertung ihres Publikums. Jedenfalls, so lange es eines zu erkennen gewillt ist: Mia verdient unsere Empathie. „Das schönste Mädchen der Welt“-Titelheldin Luna Wedler liefert als Mia einmal mehr eine herausragende Performance ab.
Vollkommen unaffektiert, gibt sie auf natürliche, nahbare Weise eine Jugendliche, die sich verlassen fühlt: Ihre Eltern nerven sie und engen sie ein. Bei ihren neuen Freundinnen kann sie sich austoben, aber so frustriert sie von den Vorschriften ihrer Eltern sein mag, so perplex-distanziert blickt Mia wiederholt auf das hibbelige Verhalten von Gianna und Konsorten. Ganz davon zu schweigen, dass sie sich vor ihnen wegen ihres Körpers schämt. Bei ihrer Kinderärztin findet Mia auch nicht den Rat, den sie sucht, und mit Jungs kann man zwar Spaß haben und austesten, worauf man so steht, aber ernste Gespräche auf Augenhöhe sind mit Gleichaltrigen unmöglich. Wedler zeigt Mias Ratlosigkeit, ihren stillen Zorn und vor allem die Leere, die sie häufig verspürt, ebenso eindrucksvoll wie die Momente, in denen sie stark und entschlossen ist. Dieses Gefühlschaos vermittelt sie mit kleiner, doch ausdrucksstarker Mimik und Gestik, womit sie umso mehr die Radikalität, die Mias Verhalten gelegentlich aufzeigt, ausgleicht. Obwohl Brühlmann dieses Psychogramm einer Pubertierenden, die nicht weiß, wohin mit ihr, mit authentischen Dialogen einfängt und es mit einer kleinen, feinen Prise Humor würzt, stehen Blicke, kleine Gesten und vor allem die Bildsprache im Mittelpunkt des Films.
Brühlmann und ihr Kameramann Gabriel Lobos finden selbst in trostlosen Klassenzimmern und dem Anblick einer übermüdet in ihrem Bett liegenden Mia so etwas wie Poesie. Dabei arbeiten sie bevorzugt mit sanftem Licht und markanten Farbfiltern. Während in Mias Elternhaus ein türkisfarbener Einschlag dominiert und in der Schule ein klinisch sauberes Weiß, sind Partyszenen wärmer geprägt, etwa durch ein zartes Orange oder ein freundliches Pink. Geschickt konterkariert Brühlmann diese Farbgebung. Das Haus von Mias Eltern ist kein deprimierender Ort, sondern freundlich eingerichtet. In den Schulszenen sorgt der Lehrer mit seinen Kommentaren für beiläufigen Witz („Dann halt die Unterhaltungsindustrie aus dem vordigitalen Zeitalter“, seufzt der Klassenlehrer staubtrocken, als Gianna und Co. die Abstimmung für den nächsten Ausflug hijacken und einen altmodischen Freizeitpark befürworten). Und auf Partys ist Mia zumeist weitaus weniger aktiv und dynamisch als ihre Freundinnen. Somit unterstreicht die Regisseurin und Autorin nochmals, ganz beiläufig, die Komplexität ihrer Hauptfigur – also die Schwierigkeit sie einzuordnen, die Mia ja so sehr plagt. Mias (gefühlte) Unzugehörigkeit vermittelt Brühlmann zudem mit einem metaphorischen, andersweltlichen Element, das sie durch sachte Vorausdeutungen schon früh im Film etabliert, jedoch erst in der zweiten Filmhälfte verdeutlicht. Befürwortende des realistischen, geradlinigen Kinos wird das wahrscheinlich, der Vorbereitung dieses Kniffs zum Trotz, vor den Kopf stoßen. Dabei stärkt die Allegorie, die Brühlmann hier mit großer Selbstverständlichkeit umsetzt, die Aussagekraft dieses Jugend-Psychogramms. Ein so poetischer, konsequenter und erschreckend-schöner Schluss wie hier wäre in einem durch und durch naturalistischen Film nämlich nur schwer möglich gewesen.
Fazit: „Blue My Mind“ ist ein bildgewaltiger, toll gespielter Film über das Gefühl des Verlorenseins, das eine Teenagerin plagt, die frisch in der Pubertät angekommen ist.
„Blue My Mind“ ist ab dem 1. November in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.