Rico, Oskar und die Tieferschatten

Mit Andreas Steinhöfel verbinde ich in erster Linie eine Lesung in meiner Grundschulzeit. Auch, wenn ich mich an den Buchtitel von damals nicht mehr erinnere, ist mir der Name des deutschen Kinderbuchautors nach wie vor ein Begriff. Die Leinwandadaption seines Bestsellers RICO, OSKAR UND DIE TIEFERSCHATTEN kommt nun in einem Gewand daher, das Lust auf eine Fortsetzung macht und die Herzen der 0- bis 99-jährigen höherschlagen lassen wird. Mehr zum Film in meiner Kritik. 

Der Plot

Der zehnjährige Rico (Anton Petzold) nennt sich selbst tiefbegabt. Er tut sich schwer, links von rechts zu unterscheiden, kann sich nicht viel merken und leidet zudem an einer Rechtschreibschwäche. Dieses vermeintliche Handicap gleicht er mit Wissbegierigkeit wieder aus und weiß sich in nahezu jeder Lebenslage zu helfen. Unterstützt wird er dabei von seiner ihn über alles liebenden Mutter (Karoline Herfurth), die tagsüber schläft und nachts in einem zwielichtigen Etablissement arbeitet. So ist Rico zumeist auf sich allein gestellt. Als er auf der Straße eines Tages den hochbegabten Oskar (Juri Winkler) trifft, werden die beiden Jungs Freunde fürs Leben. Gemeinsam sind sie quer durch Berlin unterwegs, gehen Eis essen, entdecken die Stadt und schauen ihren Nachbarn in die Wohnungen, um stets neue Geheimnisse zu erforschen. Als eines Tages der berüchtigte Entführer Mister 2000 Jagd auf kleine Kinder macht, um diese mit einem geringen Lösegeld von zweitausend Euro freikaufen zu lassen, begeben sich die Freunde auf dessen Spur. Doch dann fällt ausgerechnet Oskar dem Ganoven in die Hände und Rico muss seinen ganzen Mut zusammen nehmen, um seinen Freund zu finden.

„Mein Kopf spielt ohne dich nur Bingo!“

Kritik

„Die drei Fragezeichen – Das Geheimnis der Geisterinsel“, „Hanni und Nanni 1-3“ oder „Bibi & Tina – Der Film“: All diese Produktionen, die vornehmlich für eine recht junge Zielgruppe konzipiert sind, eint der Versuch, die klassische Grundlage des Filmstoffes mit möglichst modernen (Story-)Elementen aufzupushen. Während Detlev Buck dieses Unterfangen mit Bravour gelang, werden viele Filme dieser Sparte zu merkwürdigen Sammelsurien unterschiedlichster Ansprüche: Die Älteren sollen ihren Meta-Humor bekommen, für die Kleinen kommt eine ordentliche Portion Slapstick hinzu, dazwischen finden sich die Elemente der ursprünglichen Buch- oder Hörspielvorlage, die in dieser verfälschten Form – jung, hip und dem vermeintlichen Zeitgeist entsprechend – kaum noch wiederzuerkennen sind. In einem gewissen Rahmen ist diese Vorgehensweise in Ordnung. Auch wenn eine dreidimensional animierte „Biene Maja“ auf den ersten Blick befremdlich wirkt, steht gleichermaßen die Frage im Raum, ob die knapp ein Jahrhundert alte Zeichentrickvorlage heute überhaupt noch funktionieren würde. Neuzeit und vermeintlich angestaubte Vorlage miteinander zu arrangieren ist der Job des Regisseurs. Bei Neele Leana Vollmer, die mit „Maria, ihm schmeckt’s nicht!“ zuletzt eine äußerst amüsante Culture-Clash-Komödie inszenierte, ist Andreas Steinhöfels gleichnamige, in 28 Sprachen übersetzte Romanvorlage von „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ in den besten Händen. Sein Kinder- und Jugendbuchklassiker kommt auf der Leinwand mit einem ganz eigenen Charme daher und versprüht das Flair eines Weihnachtsmärchens. So gelingt Vollmer spielerisch das, was all ihre Kollegen angestrengt versuchen: An ihrem Film hat die ganze Familie Spaß!

Das Geheimnis hinter „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ liegt zu aller erst in den großartig gecasteten Jungmimen. Altersbedingt gelingen dem Debütschauspieler Anton Petzold und Juri Winkler („Großstadtklein“) selbstredend noch keine perfekten Charakterdarstellungen, doch gerade das unbedarfte Agieren vor der Kamera macht die Leinwandfreundschaft der beiden Lausbuben authentisch. Anton Petzolds Rico gleicht seine vermeintlichen Schwächen, die er bei jeder Gelegenheit liebevoll „Tiefbegabung“ nennt, mit einem großen Selbstbewusstsein wieder aus, indem Petzold vor allem seinen erwachsenen Kollegen bemerkenswert tough gegenüber tritt. Dabei erscheint Rico durchaus frech, nahezu schelmisch, doch eine Bösartigkeit legt er dabei nie an den Tag. Im Zusammenspiel mit dem ebenso energisch auftretenden Juri Winkler entsteht eine angenehme Dynamik, die zum einen von originellen Dialogen lebt, zum anderen aber auch durch eine gehörige Portion Improvisation funktioniert. Darüber hinaus geht Regisseurin Neele Leana Vollmer in ihrer Figurenzeichnung sehr genau vor und schafft sehr behutsam eingängige Szenarien. Wenn etwa angedeutet wird, dass Ricos Mutter, liebevoll verkörpert von Karoline Herfurth („Fack ju Göhte“), im Rotlichtmilieu arbeitet, wird diese Situation nicht für halbherzig angedeutete Erwachsenengags missbraucht, wie es unter anderem in der lieblosen, zweiten Verfilmung der „Die drei Fragezeichen“-Reihe erfolgte. Stattdessen erhält der Arbeitsplatz der Mutter eine kindgerechte Erläuterung, ohne dabei zu sehr in den Vordergrund der Handlung zu rücken. Das Storykonstrukt von „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ erhält seine Platzierung so in einem bodenständig-glaubhaften Filmuniversum.

Dazu trägt auch das namhafte Ensemble sämtlicher Nebendarsteller bei. Nach einem kurzen Gastauftritt Katharina Thalbachs als Bingo-Moderatorin folgen ihr nach und nach viele weitere große Namen der deutschen Schauspielszene. David Kross („Der Vorleser“) mimt mit stoischer Hektik den liebenswerten Yuppie von nebenan, Axel Prahl („Tatort: Münster“) ist in der undurchsichtigen Rolle des Berliner Amis Marrak zu sehen, Milan Peschel („Irre sind männlich“) als Nachbarschafts-Ekel Fitzke sowie Ursela Monn („Doctor’s Diary“) als liebevolle Ersatz-Oma Frau Dahling komplettieren Ricos Wohnhaus und Comedy-Queen Anke Engelke geht als mit Berliner Kodderschnauze gesegnete Eisverkäuferin herrlich schrecklich in ihrer Rolle auf.

Zielgruppengerecht ist das Skript von „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ nicht mit enormen Plotsprüngen oder ungeahnten Überraschungen gespickt. Das muss es jedoch auch gar nicht, um vor allem den jüngeren Zuschauern eine spannende Krimi-Handlung zu bieten, bei dem auch der erwachsene Anhang Spaß am Mitknobeln hat. Dabei präsentiert sich zwar die Auflösung des Entführungsfalles ein Stück weit banal, gleichzeitig ist der Streifen mit interessanten Hintergrundideen und durchaus ernsten Anregungen gesegnet. Wenn Oskar zugibt, sich von Mister 2000 mit Absicht entführen lassen zu wollen, um herauszufinden, ob er seinem Vater wohl zweitausend Euro wert ist und letzterer schließlich nicht daran denkt, das Lösegeld zu bezahlen, schlägt der Film entgegen vieler Erwartungen auch sentimentale Töne an. Trotz dessen ist „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ nie belehrend und legt obendrein einen herrlichen Wortwitz an den Tag, der sich nicht nur den Erwachsenen, sondern allen erschließt.

Derartige inszenatorische Kniffe unterstreichen die Realität, die innerhalb der Bücher von Andreas Steinhöfel herrscht und zeigen auf, wie genau sich das Autorenteam um Andreas Bradler („Es ist ein Elch entsprungen“) an der Buchvorlage orientiert hat. So kommt „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ nicht als seelenloser Kiddie-Blockbuster daher, sondern erzählt von Anfang bis Ende eine Geschichte, die schon die Kleinen zum Mitdenken anregt und sich dadurch wohl auch dafür eignet, an Schulen gezeigt zu werden. Untermalt mit zur Situation passender Musik – der Titelsong „Mein Kopf spielt Bingo“ der Sportfreunde Stiller ist ein echter Ohrwurm – und verpackt in Bilder eines authentisch fotografierten Berlin (Torsten Breuer, „Die Welle“) ist „Rico, Oskar und die Tieferschatten“ tatsächlich ein Film für die ganze Familie, der den Eindruck erweckt, vor zehn Jahren gedreht worden zu sein, ohne dabei angestaubt zu wirken. Trotz allem verzichtet Neele Leana Vollmer nicht gänzlich auf eine zeitliche Einordnung: Ihr Film ist von heute, ohne es immer wieder zu betonen und zeitlos, ohne auf Herz zu verzichten. Da freut man sich doch bereits auf den Nachfolger: „Rico, Oskar und das Herzensgebreche“ steht für den Sommer 2015 in den Startlöchern. Hier wurde eine Filmreihe mit Mehrwert geboren!

„Rico, Oskar und die Tieferschatten“ ist ab dem 10. Juli bundesweit in den Kinos zu sehen.

Erschienen bei IOFP.de