Wintermärchen

Wie arbeitet man filmisch die Gewalttaten einer skrupellosen Terrorzelle auf? Und dann auch noch aus der Sicht der Täter? Regisseur Jan Bonny macht mit seinem radikalen Drama WINTERMÄRCHEN das einzig Richtige und zeigt die an die Mitglieder des NSU angelehnten Hauptfiguren als pervers-verlodderte Drecksäcke ohne Gewissen und verzichtet dabei gezielt auf Antworten. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
„Es muss mal wieder richtig knallen!“, finden Becky (Ricarda Seifried) und Tommi (Thomas Schubert), deren Beziehung von zerfressender Langeweile, Frust und Abhängigkeit dominiert wird. Ihr Kosmos in der schmuddeligen Wohnung ist winzig, ihre Pläne groß. Zusammen wollen sie als Terrorzelle Ausländer ermorden und landesweite Aufmerksamkeit erzeugen! Plötzlich steht Maik (Jean-Luc Bubert) in der Küche und aus dem passiven Duo wird ein explosiver Dreier. Doch ihre angeblichen Werte wie Ehre, Stolz und Loyalität versumpfen zunehmend in Orientierungslosigkeit und ihre Radikalität sprengt alle Grenzen.
Kritik
Zwischen 2000 und 2007 beging die neonazistische Vereinigung Nationalsozialistischer Untergrund – kurz: NSU – deutschlandweit zehn Morde, 43 Mordversuche, drei Sprengstoffanschläge und 15 Raubüberfälle. Die von Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gegründete Terrorzelle soll zwischen 100 und 200 Anhänger gehabt haben. Wie viele Taten diese begingen, die bis heute jedoch nicht mit dem NSU in Verbindung gebracht wurden, ist nicht bekannt. Mundlos und Böhnhardt begingen im November 2011 Selbstmord, Beate Zschäpe wurde als Mittäterin verhaftet und in einem aufsehenerregenden Prozess zu einer lebenslangen Freiheitsstrafe verurteilt. Fatih Akin war der Erste, der sich des Themas annahm und inszenierte mit „Aus dem Nichts“ ein sehr lose an die NSU-Morde angelehntes, jedoch stark fiktionalisiertes Rachedrama, das 2017 sogar den Golden Globe als Bester fremdsprachiger Film gewinnen konnte. Darin folgt Akin einer furios von Diane Kruger verkörperten Mutter, die bei einem Sprengstoffanschlag Ehemann und Sohn verliert. Eine Texttafel am Ende des Films offenbart die Inspiration für die Geschichte, wenngleich sich der in drei klar voneinander getrennte Abschnitte eingeteilte Film gerade im letzten sämtliche Freiheiten nimmt, um ein Plädoyer gegen Menschenhass abzuliefern. Regisseur Jan Bonny („Gegenüber“) hält sich mit seinem erst zweiten Kino-Spielfilm „Wintermärchen“ nun schon ein wenig enger an die überlieferten Fakten von der skrupellosen Zweckgemeinschaft der drei NSU-Gründer, was allerdings noch lange nicht bedeutet, dass man deren Motivation am Ende der im besten Sinne abscheulichen 125 Minuten irgendwie nachvollziehen könnte.
Nachvollziehen soll man in „Wintermärchen“ ohnehin nichts, letztlich nicht einmal verstehen. Jan Bonny, der zusammen mit Kurzfilm-Auteur Jan Eichberg auch für das Drehbuch verantwortlich zeichnet, wirft den Zuschauer mitten hinein in die dysfunktionale Beziehung von Becky und Tommi, deren Tag einzig und allein daraus besteht, monotonen Sex zu haben, zu saufen oder sich gegenseitig anzupöbeln, weil entweder der Sex nicht funktioniert, oder das Gesöff nicht genug reinknallt. Zwischendurch fahren sie durch die Straßen ihrer Stadt, um sich auszumalen, wie es wäre, wenn man wahllos einen Passanten vermöbelt, absticht oder zu Tode hetzt; am besten einen Ausländer, auch wenn nie so richtig klar wird, warum eigentlich. Aber genau darum geht es: „Wintermärchen“ liefert keine Antworten. Dazu gehört auch, dass Bonny die Geschehnisse für sich sprechen lässt. Becky und Tommi erhalten keinen erzählerischen Background, der familiäre Verhältnisse näher erläutert oder irgendwie erklären würde, weshalb die beiden am aller untersten Ende der gesellschaftlichen Nahrungskette angelangt sind. Jobs, Freunde, Freizeitaktivitäten – all das gibt es im Leben der beiden nicht. Stattdessen konzentriert sich ihr Alltag ganz aufeinander, obwohl hier schon längst keiner mehr Liebe oder Leidenschaft für den jeweils anderen empfindet.
Dieses spürbare voneinander angewidert Sein kostet Jan Bonny voll aus. Nicht nur Becky und Tommi empfinden sichtbar Ekel und Abneigung füreinander, keifen sich bei jeder Gelegenheit an und nutzen die Körper des jeweils anderes ausschließlich, um ihre eigenen Bedürfnisse, nicht aber die des Partners zu befriedigen. Ricarda Seifried („The Horror“), Thomas Schubert („Wilde Maus“) und später auch Jean-Luc Bubert („LenaLove“) kann man zu einer derart radikal-unerschrockenen Performance nur beglückwünschen. Diese Atmosphäre der Abscheu überträgt sich auch auf den Zuschauer, für den es während der gut zwei Filmstunden kaum einen emotionalen Ankerpunkt gibt, der das Interesse für die beiden Figuren irgendwie tragen könnte. Mit Becky und Tommi will man eigentlich keine Zeit verbringen. Gleichzeitig könnte dieses Empfinden den Kern von „Wintermärchen“ kaum besser treffen. Jan Bonny seziert die Entstehung einer Terrorzelle nicht aus vermeintlich moralischer Überlegenheit oder stupidem Ideologiedenken heraus, sondern macht sie zum Ergebnis von Langeweile und dunklen Trieben. Das bedeutet allerdings auch, dass die filmischen Abläufe bisweilen eintönig werden: Sex, Frust, Gewalt – etwas Anderes findet in „Wintermärchen“ ganz einfach nicht statt. Und auch, wenn die Monotonie, auf deren Nährboden sich die Gewaltfantasien erst entwickeln konnten, dadurch besonders gut zur Geltung kommt, werden die 124 Filmminuten so erst recht zur Geduldsprobe.
Mit dem Auftreten von Maik kommt schließlich Struktur in diese bislang diffuse Ansammlung an Wut und Hass auf sich und das System – aus den Fantasien wird ein Plan. Wie aus der Zweier- eine Dreiergemeinschaft wird und sich das Machtgefüge innerhalb dieser eine-Frau-zwei-Männer-Konstellation immer wieder verschiebt, ist erzählerisch der gleichermaßen ambitionierteste wie stärkste Teil. Bisweilen blickt man selbst nicht mehr durch, wer sich hier gerade von wem sexuell angesprochen fühlt (und warum sowieso). Doch genau an dieser Stelle bricht sich das Chaos wieder Bahn, denn die Machtpositionen im Schlafzimmer lassen sich immer auch direkt auf die Gewalteskalationen übertragen. Egal ob das Trio nun einen Supermarkt überfällt oder in ein Büro einbricht: Die anschließenden Kopfschüsse und Prügeleien inszeniert Jan Bonny radikal und alles andere als überstilisiert. Mehrmals zwingt er den Zuschauer mit besonders drastischen Aufnahmen, der Gewalt in ihr hässliches Gesicht zu blicken. Genauso wie dem Sex, den er hier gleichzeitig so freimütig und visuell, aber auch umso abstoßender zeigt, dass man am Ende gar keine Möglichkeit mehr hat, kurz Luft zu holen. Gerade in den letzten 20 Minuten wird „Wintermärchen“ zur Geduldsprobe. Nicht durch das, was Jan Bonny hier zeigt, sondern durch das, was die Bilder implizieren. Wären wir alle so triebgesteuert wie diese Menschen hier, dann gäbe es nur noch Mord und Totschlag auf der Welt.
Fazit: Auf „Wintermärchen“ könnte keine Beschreibung besser passen als „radikal“ – doch für dieses „in die Fresse“-Gefühl geht Regisseur Jan Bonny weit über Schmerzgrenzen hinaus. Das tut richtig weh und ist bisweilen kaum zu ertragen. Aber anders lassen sich die sinnlosen Taten des NSU – und sei es in fiktionalisierter Form – wohl kaum aufbereiten.
„Wintermärchen“ ist ab dem 21. März in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.
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