Immer noch eine unbequeme Wahrheit

2006 trat der ehemalige Präsidentschaftskandidat Al Gore in einem appellierenden Dokumentarfilm an die Menschheit heran, um sie auf das Problem der Klimaerwärmung aufmerksam zu machen. Mittlerweile ist dieses Thema IMMER NOCH EINE UNBEQUEME WAHRHEIT und deshalb war es Zeit für eine Fortsetzung. Wie die geworden ist, dass verrate ich in meiner Kritik.
Darum geht’s
Etwas mehr als zehn Jahre sind vergangen, seit „Eine unbequeme Wahrheit“ die Klimakrise in die Köpfe und Herzen der Menschen gebracht hat. Jetzt zeigt die fesselnde und mitreißende Fortsetzung, dass eine technische Revolution bevorstehen könnte. Der ehemalige Vizepräsident der USA Al Gore setzt seinen unermüdlichen Kampf fort und reist um die Welt, um mit Vorreitern in Klimafragen zu arbeiten und Einfluss auf die internationale Klimapolitik zu nehmen. Bei seiner Suche nach Ideen und Inspirationen folgt ihm die Kamera hinter die Kulissen und zeigt ihn in privaten und öffentlichen Momenten, mal heiter, mal rührend. In einer Zeit, in der die Bedrohung größer ist als je zuvor, könnten die Menschen jetzt den Klimawandel durch Ideenreichtum und Leidenschaft überwinden.
Kritik
Als der ehemalige US-Präsidentschaftskandidat Al Gore vor elf Jahren mit seinem appellierenden Dokumentarfilm „Eine unbequeme Wahrheit“ das Thema Klimawandel in den Köpfen der breiten Masse platzierte, gehörte er damit zu den Pionieren auf dem Gebiet der Krise. Heute weiß jeder halbwegs geradeaus denkende Bürger, wie es um die Zustände der Erderwärmung bestellt ist – außer der Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika, der erst vor wenigen Wochen aus dem Pariser Klimaabkommen austrat und sich damit sogar von namhaften Regierungsmitarbeitern weltweit Spott und Häme einhandelte. Auch wenn es so schien, als hätte Al Gore in „Eine unbequeme Wahrheit“ bereits alles gesagt, haben sich die Doku-Regisseure Bonni Cohen und Jon Shenk dem Anliegen des Politikers, Unternehmers und Umweltschützers angenommen, einen weiteren Film über diese Thematik drehen zu wollen. Zuschauer, die mit dem Vorwerk vertraut sind, werden darin kaum neue Erkenntnisse erhalten; „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ besitzt in etwa den Mehrwert eines rund eineinhalbstündigen Best-Ofs der bekanntesten Thesen und Erkenntnisse aus vielen Jahren Klimaforschung. Gleichzeitig wählt das Regie-Duo einen neuen Ansatz, um die für viele so trockene Angelegenheit auch an weniger interessierte Zuschauer heranzutragen. Und obwohl Gore auch diesmal nicht ganz auf seine Zahlen, Tabellen und Diagramme verzichten kann, erscheint das Doku-Sequel weitaus leidenschaftlicher, als der Auftakt.
„Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ versteht sich vor allem als intimes Porträt des passionierten Klimaaktivisten Al Gore, der noch heute mit derselben Leidenschaft an sein Herzensthema herangeht, wie zu Zeiten des heißen Wahlkampfs. Man kommt im Laufe der knapp 100 Minuten nicht umher, sich mehrmals die Frage zu stellen, wie es um die USA (und die Welt) wohl heute stehen würde, hätte im Jahr 2000 nicht George W. Bush die Präsidentschaftswahl für sich entschieden, sondern der später mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnete Demokrat. Al Gore präsentiert seine Thesen und Denkanstöße derart hingebungsvoll, dass so viel Feuereifer für eine zweifelsfrei gute Sache fast zu schön erscheint, um wahr zu sein. Und obwohl ein begnadeter Politiker wie Al Gore jederzeit weiß, wie er sich möglichst vorteilhaft vor der Kamera präsentieren muss, fühlt sich die Aufopferungsbereitschaft des hier weder als Initiator, noch als Produzent fungierende Ex-Vizepräsident wie eine echte Figur an (zum Vergleich: Erst kürzlich bemängelten wir im David-Lynch-Porträt „The Art Life“, dass die betonte Konstruktion der Person David Lynch dafür sorge, dass sich viele Momente in der Dokumentation nicht wahrhaftig, sondern ziemlich arrangiert anfühlten, um die Hauptfigur des Films in einem vorab ausgeklügelten Licht zu präsentieren), die mit Leib und Seele für das kämpft, was ihr am Herzen liegt.
Insofern ist „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ auch direkt weitaus weniger politisch, als man es im Anbetracht jüngster Ereignisse erahnen mag – nicht zuletzt, da die Dreharbeiten zum Film längst abgeschlossen waren, als Donald Trump mit seinem Austritt aus dem Klimaabkommen von Paris für eine von diversen politischen Fehlentscheidungen sorgte. Gezielte oder unterschwellige Anklagen gegen politische Gegner oder radikale Klimakrisenverweigerer gibt es in diesem Film nicht. Stattdessen setzen Bonni Cohen und Jon Shenk („Audrie & Daisy“) vorzugsweise auf den direkten Appell an den Zuschauer und begleiten Al Gore auf einer Tour quer durch die Vereinigten Staaten, in denen sich der 69-jährige, gebürtig aus Washington, DC stammende Politiker auf Augenhöhe mit den hier ansässigen Bürgern über seine Erkenntnisse unterhält. „Eine unbequeme Wahrheit“ konzentrierte sich dagegen einzig und allein auf eine von Al Gore selbst geführte Bühnenpräsentation, in der er sich auf die nüchternen Tatsachen der Klimakrise konzentrierte und sie in Form von Daten und Fakten an das Publikum herantrug. Am Ende rauchte einem der Kopf von so viel Theorie; „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ verbindet nun die trockenen Daten mit dem echten Leben und veranschaulicht so umso besser, wo die Auswirkungen des Klimawandels im Alltag spürbar sind. Manch einem mag das zu verwässert erscheinen; wer ausschließlich daran interessiert ist, sich möglichst viel Wissen zum Thema Erderwärmung anzueignen, sollte nach wie vor lieber auf den ersten Film zurück greifen. Deutlich leichter nachzuvollziehen und kurzweiliger inszeniert ist indes diese Produktion.
Hier und da greifen die Macher in ihrer Auswahl an Material jedoch auch daneben. Nicht bloß der theatralische Abspannsong von OneRepublic verleiht der Dokumentation rückwirkend einen Hauch von zu viel Kitsch, auch ausgewählte Einzelszenen erzeugen einen bitteren Nachgeschmack, für die symptomatisch das gefilmte Aufeinandertreffen von Al Gore und einem Flutkatastrophenopfer steht, das inszenatorisch so sehr auf die Tränendrüse drückt, dass es im neutralen Umfeld des Films wie ein Fremdkörper wirkt. Auch die familiären Anekdoten Al Gores machen einen befremdlichen Eindruck, denn Personality hin oder her, bleibt „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ letztlich ein Film über den Klimawandel und kein reines Politiker-Porträt. Dafür sensibilisieren eigentlich schon oft gesehene Bilder von schmelzenden Gletschern und Überschwemmungen immer noch so sehr wie früher. Angereichert mit diversen unglaublichen Fakten und manch neuer Erkenntnis, die das geballte Wissen aus „Eine unbequeme Wahrheit“ gekonnt ergänzen, sorgen die Macher dafür, dass der gefährliche Effekt der Abstumpfung ausbleibt. Man mag gerade in den Nachrichten der vergangenen Jahre einiges an Naturkatastrophen miterlebt haben. Zum Alltag wird es dagegen nie – und damit das auch so bleibt, sind Filme wie dieser hier besonders wichtig.
Fazit: Weniger Theorie, mehr Persönlichkeit: „Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ führt das Thema Klimaerwärmung an der Stelle fort, an welcher der Vorgänger vor elf Jahren aufhörte und reichert die bekannten Thesen um neue, emotionale Facetten an, sodass dieser Film jene Zuschauer mehr ansprechen könnte, denen „Eine unbequeme Wahrheit“ zu trocken war.
„Immer noch eine unbequeme Wahrheit“ ist ab dem 7. September in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.