Der große Trip – Wild

Für sein Aidsdrama „Dallas Buyers Club“ wurde Jean-Marc Vallée im vergangenen Jahr für den Oscar als Bester Regisseur nominiert. Nun legt der unkonventionelle Filmemacher mit seinem Selbstfindungsdrama DER GROSSE TRIP – WILD die emotionale Geschichte einer Aussteigerin nach und beweist damit, dass sich tiefschürfende Charakterstudien und eine spannende Abenteuererzählung nicht ausschließen müssen. Mehr zum Film in meiner Kritik.
Der Plot
Nach Jahren des ziellosen Umhertreibens, einer Heroinsucht und dem Ende ihrer Ehe, trifft Cheryl Strayed (Reese Witherspoon) eine wagemutige Entscheidung. Verfolgt von Erinnerungen an ihre Mutter Bobbi (Laura Dern) und ohne jegliche Wandererfahrung begibt sie sich völlig allein auf einen Trip der Extreme. Drei Monate lang kämpft sie sich fast zweitausend Kilometer über die Höhenzüge des Pacific Crest Trail an der US-Westküste von Südkalifornien bis in den Norden Oregons. All die Gefahren und Schrecken, welche die Reise mit sich bringen, aber auch die Freuden, die Cheryl auf ihrem kräftezehrenden Fußmarsch erlebt, machen die junge Frau stärker. Doch gleichsam fordert ihr Vorhaben jede Menge Schweiß, Blut und Nerven von ihr. Wird die Zeit der Einsamkeit Cheryl trotz vieler Rückschläge wirklich heilen können?
Kritik
Es sind Erzählungen wie „Into the Wild“ und „Spuren“, die uns die Einzelschicksale von Menschen näher bringen, die der Zivilisation für eine ungewisse Zeit den Rücken kehrten, um in der Einsamkeit und Stille der menschenleeren Ödnis zu sich selbst zu finden. Nach Emile Hirsch und Mia Wasikowska reiht sich nun auch Reese Witherspoon („Inherent Vice – Natürliche Mängel“) in die Reihe derer, die auf Basis (auto)biographischer Erzählungen in die Rolle ebenjener Aussteiger schlüpfen, an deren Schicksal die ganze Welt teilhatte. Cheryl Strayed schrieb ihre Erlebnisse in dem Roman „Der große Trip: Tausend Meilen durch die Wildnis zu mir selbst“ nieder, dessen Leinwandpotenzial Jean-Marc Vallée im vergangenen Jahr für sich entdeckte. Der Regisseur des preisgekrönten Aidsdramas „Dallas Buyers Club“ inszeniert den Selbstfindungstrip der jungen Frau in ganz ähnlichem Stil, wie er dem Publikum auch das Schicksal des totkranken Ron Roodrof näher brachte: Seine Auffassung von Emotionskino basiert nicht auf inszenatorisch klischeehafte Überhöhung durch filmische Stilmittel oder das genaue Ausformulieren möglichst nachdrücklicher Dialoge. Vallée, Verfechter des Neo-Realismus‘ des jungen 21. Jahrhunderts, vertraut ganz auf die Wucht der puren Geschichte. Das sorgt zwar dafür, dass „Der große Trip – Wild“ stellenweise fast dokumentarisch daherkommt, unterstreicht jedoch nicht nur die Wertigkeit der Schauspielleistung von Reese Witherspoon, sondern setzt darüber hinaus ein Ausrufezeichen hinter eine akribisch ehrliche Inszenierung, fernab jedweder Gefühlsmanipulation des Zuschauers.
Dem Stil eines Jean-Marc Vallée muss man sich langsam annähern. Der kanadische Filmemacher gibt seinem Publikum keine eindeutige Richtung vor, sondern erzählt seine Geschichte ganz so, wie es die wahren Ereignisse zwangsläufig vorgeben. Nach den Geschehnissen um Ron Woodroof ist auch „Der große Trip“ einmal mehr eine Nacherzählung, die dem Regisseur somit wenig Freiraum für eigene Auslegungen lässt. Das einzige Zugeständnis an das Gelegenheitspublikum ist da vermutlich die Wahl des Drehbuchautors, denn mit Nick Hornby zeichnete an dieser Stelle ein Schreiber verantwortlich, der uns schon Werke zu Filmen wie „About a Boy“ und „A Long Way Down“ bescherte. Nun steht also Cheryl Strayed im Mittelpunkt und mit ihr die Story einer des Lebens müde gewordenen, desillusionierten Frau, die nach herben Schicksalsschlägen zu weitaus mehr finden muss, als nur zu sich selbst. Reese Witherspoon, die in „Der große Trip“ zweifelsohne die beste Leistung ihrer Karriere abliefert, gibt der vom Leben gebeutelten Figur ein Gesicht, dessen zu entziehen alsbald schwer fällt. Gleichwohl ist Cheryl Strayed keine genrekonforme Protagonistin. Insbesondere die erste Hälfte, in der Vallée dem Publikum mithilfe von Rückblenden die Hintergründe der Frau näher bringt, lässt kein gutes Haar an Cheryl, sodass es nicht wundert, dass sich zu Beginn ein rascher Überdruss ob der teils sehr anstrengenden Figur einstellt. Auch die Beweggründe zur Reise kommen zu Beginn nicht über eine selbstgeißelnde Tour de Force hinaus, was klischeehaften Wendungen per se Tür und Tor öffnet. Doch auch wenn der Charakter der Cheryl oberflächlich in Selbstmitleid ertrinkt, so offenbaren sich dem Zuschauer doch nach und nach die wahren Abgründe ihrer ambivalenten Figur, mit deren Hilfe sich die andeutenden Klischee-Entwicklungen sukzessive in Luft auflösen.
Diese Ambivalenz geht Reese Witherspoon, die sich zuletzt als einziges Highlight in der oberflächlichen Kriminalfall-Nacherzählung „Devil’s Knot“ bewies, in Mark und Bein über. Beginnt sie ihre Reise als körperliches wie seelisches Wrack, das selbst an den einfachsten emotionalen Aufgaben scheitert, festigt sich nicht nur die Mimik Witherspoons im Laufe der mit knapp zwei Stunden sehr gut bemessenen Spielzeit, sondern auch ihr gesamtes Erscheinungsbild. Der Schauspielerin gelingen zwischen den Zeilen sehr subtile Gesten, die aus Cheryl auch in den härtesten Momenten der Selbstverachtung immer noch eine zarte Frau machen. Darüber hinaus besitzen sämtliche Macher ein exzellentes Gespür für leise Komik. Fernab jedweder Slapstick- oder Pointeneinlagen hat „Der große Trip – Wild“ viel treffsicheren Humor zu bieten, der immer wieder mit der sich selbst eingebrockten Lage der Teilzeitaussteigerin kokettiert. Umso bedrückender wird hingegen das Zusammenspiel mit einer umwerfenden Laura Dern in der Rolle von Cheryls totkranker Mutter. Ähnlich ihrer Rolle im Krebsdrama „Das Schicksal ist ein mieser Verräter“ mimt Dern auch in „Wild“ die aufopferungsvolle Mutter mit ganzer Hingabe – und löst schlicht Begeisterungsstürme aus. Zusammen mit Witherspoon gelingen ihr die emotionalsten Momente, die in „Wild“ gleichsam die stärksten Akzente setzen. Des Weiteren begeistert in den Szenen zwischen Mutter und Tochter die Arbeit der Make-Up-Artists, welche die Mittdreißigerin Reese Witherspoon ohne viel Aufwand in eine Jugendliche verwandeln.
Vor der von Kameramann Yves Bélanger („Laurence Anyways“) imposant in Szene gesetzten Wildnis, die schneebedeckte Berggipfel, dörrende Täler und staubtrockene Wüstenlandschaften gleichermaßen in sich vereint, ist „Der große Trip – Wild“ Charakterdrama und Survivalabenteuer in einem. Dabei gesteht Jean-Marc Vallée Cheryls Wanderung durchaus auch bittersüß romantische Seiten zu, wenn er etwa das Aufeinandertreffen zwischen Einsiedlerin und einem wilden Luchs ebenso beiläufig wie poetisch in Szene setzt, oder Bélanger sich mehr als einmal an der malerischen Kulisse ergötzen darf. Gleichsam spart der Filmemacher nicht an hartem Tobak: Nicht nur, dass die zwielichtigen Rückblenden Themen wie Drogenkonsum, Krankheiten und Abtreibung beinhalten, auch der Trip selbst ist gespickt mit den Hürden der bitteren Realität. Schon die Eröffnungsszene zeigt Cheryl, wie sich diese einen entzündlichen Fußnagel vom Zeh reißt. Ohne einen prägnanten Score unterstreicht Vallée damit seinen ganz eigenen Stil, die Faszination in der Bodenständigkeit zu finden. Wie schon seine Vorwerke ist auch „Der große Trip – Wild“ mehr eine charakterstarke Momentaufnahme denn eine zielgerichtete Geschichte nach Schema F. Umso beeindruckender ist da die Symbiose aus mitfühlendem Zeitdokument und Unterhaltungsfilm, zu der Vallées neuester Streich geworden ist.
Fazit: Ein weiteres Mal beweist Oscar-Nominee Jean-Marc Vallée sein Händchen für hochemotionale Stoffe und inszeniert „Der große Trip – Wild“ dennoch fast wie beiläufig und alles andere als aufgesetzt. So wird sein Film zu einem visuell berauschenden und tief ergreifenden Meisterwerk mit Wiedererkennungs- und Seltenheitswert, denn dass ein Drama nicht nur bewegt, sondern auch so mitreißend spannend ist, sieht man heutzutage kaum noch im modernen Kino.
„Der große Trip – Wild“ ist ab dem 15. Januar bundesweit in den deutschen Kinos zu sehen.
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