Stoker

Mit STOKER liefert der Südkoreaner Chan-Wook Park einen der besten, auf jeden Fall aber elegantesten Film des Kinojahres 2013 ab. Die im Stil alter Horrormärchen gehaltene Psychostudie über India, die ihren Vater verliert und in ihrem undurchsichtigen Onkel Charlie eine Art Seelenverwandten findet, ist eine herausragende Filmkomposition, die im Psychothrillerbereich ihresgleichen sucht und so einzigartig ist, wie Independentkino es nur in den seltensten Fällen sein kann.
Der Plot
India Stoker (Mia Wasikowska) muss als Achtzehnjährige den frühen Tod ihres Vaters Richard (Dermot Mulroney) verarbeiten. Mit ihrer strengen Mutter Evelyn (Nicole Kidman) verbindet sie kaum etwas. Beide leben nebeneinander her, auch wenn Evelyn immer wieder versucht, sich ihrer entfremdeten Tochter anzunähern. Das Leben der Frauen soll sich schlagartig ändern, als auf Richards Beerdigung ungeahnt dessen Bruder Charlie (Matthew Goode) auftaucht, der es versteht, Evelyn gehörig den Kopf zu verdrehen. Nach anfänglicher Skepsis findet auch India Gefallen an ihrem stets höflichen, dabei jedoch undurchsichtigen Onkel. Obwohl Charlie Evelyn mehr als einmal verführt, baut sich vor allem zwischen ihm und seiner Nichte eine Beziehung auf. Immer mehr zieht er India in seinen Bann, die nicht ahnt, dass dieser ein düsteres Geheimnis hütet.
Kritik
Auf den ersten Blick scheint die mittlerweile fünfzehnte Regiearbeit des südkoreanischen Enfant Terrible Chan-Wook Park („Oldboy“, „Lady Vengeance“) vorab zum Scheitern verurteilt. Bei dem Psycho-Thriller-Projekt, das seit 2010 auf der Black List, also Hollywoods Hitliste der besten unverwirklichten Drehbücher, verharrte, handelt es sich nämlich um das Autorendebüt von „Prison Break“-Star Wentworth Miller. Dieser benötigte für die Fertigstellung seines Projekts acht Jahre und kam zu der Befürchtung, dass seine Arbeit nur seines Namens wegen in Hollywood auf Ablehnung stoße, sodass er sich entschloss, „Stoker“ den Filmproduzenten unter dem Namen seines Hundes vorzustellen. Mit Erfolg! In Chan-Wook Park, berühmt berüchtigt unter anderem aufgrund seiner Rache-Trilogie, fand der einzigartige Stoff genau den richtigen Filmemacher, der aus ihm nicht nur einen Top-besetzten Psychothriller machte. Vielmehr handelt es sich bei der doppelbödigen Gruselmär um die einzigartigste Bild-Ton-und-Story-Komposition des Jahres, die in ihrer Eleganz und Formvollendung etwas darstellt, das man heutzutage wohl als den „perfekten Film“ bezeichnen darf. Dieses ausnahmslos positive Erscheinungsbild erstreckt sich von der Treffsicherheit in der Darstellerfindung über eine im höchsten Maße ästhetische Bildsprache und eine meisterhaft gewählte Instrumentalkomposition – einschließlich der wohl intensivsten Piano-Szene der Filmgeschichte – bis hin zum Grundgerüst, welches die vortrefflich ineinander greifenden Puzzlestücke zusammenhält: die Story.

Zwischen Nicole Kidman und Matthew knistert es…
Eines wird bereits in den ersten fünf Minuten deutlich: Mit „Stoker“ zollt Alfred-Hitchcock-Verehrer Chan-Wook Park seinem großen Idol einen eindrucksvollen Tribut. Wie kaum ein anderer war der Macher von „Psycho“, „Vertigo“ und Co. in seinem Element, wenn es darum ging, Spannung zu erzeugen. Der Spitzname „Meister des Suspense“ kam nicht von ungefähr. Umso eindrucksvoller kreierte er die typische Hitchcock-Atmosphäre stets durch die nicht greif-, geschweige denn sichtbare Bedrohung.
Auch „Stoker“ lässt seinen Betrachter lange Zeit im Dunkeln über die sich ankündigende Gefahr. Mehr noch nimmt Chan-Wook Park ihm sämtliche Halt- und Orientierungsmöglichkeiten, schmeißt ihn direkt ins Geschehen und konfrontiert ihn mit nackten Tatsachen, ohne dabei Erklärungen abzuliefern. So erhält India, nuanciert und das Publikum einnehmend gespielt von „Alice im Wunderland“-Darstellerin Mia Wasikowska, zu jedem Geburtstag ein neues Paar Schuhe von einem Unbekannten, was sich erst im Finale aufklärt. Beziehungen zu Nebenfiguren werden, trotz immenser Bedeutung für das Filmgeschehen, ausschließlich angerissen und überlassen die Charakterisierung dem Publikum, zudem bringt Park immer wieder symbolträchtige Bilder ins Spiel, an deren Interpretation man sich entweder bis zum Schluss die Zähne ausbeißt, oder die im Gesamtkontext des Werkes Aufschluss über wertvolle Details liefern.
Hat Charlie erstmal seinen Platz in der zerrütteten Familie Stoker eingenommen, geht ein spürbar dynamischer Ruck durch die Inszenierung, gleichwohl behält das Tempo seinen gemächlichen, fast zelebrierenden Grundton bei. Mit seiner Dialog-Reduktion auf ein Nötigstes überlässt der asiatische Regisseur, ähnlich seinen Werken wie „Oldboy“, viel der filmischen Durchschlagskraft der Bildsprache und Kulisse. Mithilfe der exzellenten Kameraarbeit von Chung-hoon Chung, der bereits für die Aufnahmen sämtlicher vergangenen Chan-Wook-Park-Projekte verantwortlich zeichnete, katapultiert „Stoker“ das Publikum mitten ins Geschehen und schafft es, dem Zuschauer das Gefühl zu geben, jederzeit auf Augenhöhe der Akteure zu stehen.
Zu denen gehört neben Wasikowska und Goode auch eine kühl-elegante Nicole Kidman, die mit ihrer Verkörperung der Aristokraten-Mutter Evelyn an ihre harsche Performance in „The Others“ erinnert. Ausgerechnet die zu den passioniertesten Schauspielerinnen Hollywoods zählende Kidman ist es, die unter den Hauptdarstellern noch die austauschbarste Leistung abgibt. Bei derartig starker Konkurrenz ist das zwar Kritik auf ganz hohem Niveau, doch hätte man sich in Momenten, die von ihrer Rolle Leidenschaft, Schmerz oder Furcht gefordert hätten, noch mehr Ausdrucksstärke in ihrer Mimik gewünscht.

Der böse Onkel!?
Ein reiner Horrorfilm ist „Stoker“ nicht geworden. Zu selten provoziert der fast märchenhaft inszenierte Thriller direkte Angstmomente. Vielmehr zieht der Film seine Intensität aus einer sich stetig steigernden Beklemmung, eingebettet in eine reichlich unkonventionelle Coming-of-Age-Story. Denn trotz der manchmal übernatürlich anmutenden Atmosphäre ist „Stoker“ immer noch eine Geschichte über eine junge Frau, die ihre erwachende Sexualität entdeckt, sich schwindelerregender Gefühlsschwankungen stellen muss und dank ihres Onkels einen Ausbruch aus ihrer Lethargie zu finden versucht. Die Art, wie es Chan-Wook Park gelingt, in hypnotischen Bildern einzufangen, wie Indias Seele sich dabei langsam dem Bösen zuwendet, ist in ihrer unaufgeregten Bodenständigkeit so überwältigend, dass man sich zeitweise wünscht, „Stoker“ möge nie enden. Das wiederum wäre allerdings schade um das absolut geniale Finale.