Gefangen im Netz

Jeder ahnt es, kaum Jemand bekommt es mit und trotzdem ist die vom sogenannten Cybergrooming ausgehende Gefahr für Kinder und Jugendliche allgegenwärtig. Die osteuropäische Dokumentation GEFANGEN IM NETZ veranschaulicht die Perversion, mithilfe der Internetanonymität die Unsicherheit junger Menschen auszunutzen, um sie in sexuell aufgeladene Gespräche – und mehr – zu verwickeln, für teils drastische Bilder und ist gerade deshalb einen Blick wert.

OT: V síti (CZE/SVK 2020)

Darum geht’s

Es reicht nur ein Klick: Jugendliche sind in den digitalen Medien täglich der massiven Bedrohung durch Cybergrooming ausgesetzt. Erwachsene Männer nutzen dabei die Naivität, die Unwissenheit oder Unerfahrenheit von jungen Menschen im Netz schamlos aus. „Gefangen im Netz“ dokumentiert in eindringlichen Bildern, was nahezu überall auf der Welt passiert. Die Dokumentation ist ein filmisches Experiment, das ein Schlaglicht auf das Tabuthema Missbrauch an Kindern und Jugendlichen im Netz wirft: Drei volljährige Darstellerinnen, drei Kinderzimmer, 10 Tage und 2.458 Männer mit eindeutigen Absichten. Die drei sehr mädchenhaft aussehenden Akteurinnen, die sich im Netz mit fiktiven Profilen als 12-Jährige ausgeben, chatten aus sorgfältig nachgebauten ‚Kinderzimmern’ in einem Filmstudio mit Männern aller Altersgruppen. Sechs Kameras drehen die Ereignisse mit, während das Experiment zudem von Juristen und Psychologen begleitet wird.

Kritik

„Angriff auf unsere Kinder“ – so hieß das RTL-Experiment, das im Mai dieses Jahres zur besten Sendezeit auf dem Privatsender ausgestrahlt wurde und mit dem die Redaktion rund um Moderator Steffen Hallaschka auf das Thema Cybergrooming aufmerksam machen wollte. Die Reaktionen dazu waren nahezu einheitlich: Die von Psycholog:innen und Jurist:innen betreute sowie mit drei besonders jung aussehenden, aber nachweislich volljährigen Darsteller:innen bestückte Sendung verfolgte drei Jugendliche auf einen Streifzug durchs Internet, der im Nachgang für Entsetzen sorgte. In Chatprogrammen und Foren sollte beobachtet werden, wie lange es dauern würde, bis Erwachsene (in der Show ausschließlich Männer) im Schatten der Anonymität versuchen würden, trotz ihres wesentlich höheren Alters mit deutlich jüngeren Userinnen und Usern zu chatten. Die Vorgabe: Bereits in den ersten Minuten des Chats sollte den Erwachsenen unterbreitet werden, dass sie gerade Kontakt zu einem minderjährigen Menschen aufgenommen hätten. Nur in den seltensten Fällen (einer davon wurde als Paradebeispiel herausgepickt und veranschaulicht) ließen die User:innen daraufhin von ihrer Chatanbahnung ab. „Angriff auf unsere Kinder“ hatte damals etwas regelrecht Revolutionäres, so ganz neu ist diese Idee allerdings nicht. Die tschechisch-slowakische Dokumentation „Gefangen im Netz“ stand Pate für die RTL-Show, kommt aufgrund der coronabedingten Kinoschließungen aber nun erst nach der TV-Ausstrahlung in die Lichtspielhäuser. Die Erkenntnisse beider Formate sind nahezu identisch. Und trotzdem geht „Gefangen im Netz“ in den entscheidenden Momenten noch ein wenig weiter.

Blick ins Studio mit Filmteam und Betreuerstab.

Damit meinen wir nicht nur, dass sich das Risiko für den osteuropäischen, schauspielernden Cast vor allem gen Ende der Dokumentation noch einmal gehörig verschärft, wenn die Kamera die jungen Frauen tatsächlich bei leibhaftigen Treffen mit ihren vorab eindeutige Absichten offenbarenden Chatbekanntschaften filmt (natürlich immer in Begleitung des Filmteams, das im Notfall sofort eingreifen kann). Sondern auch die Tatsache, wie viel komprimierter die hier dargestellten Delikte abgebildet werden. Zwar nahm „Angriff auf unsere Kinder“ bei RTL einen ganzen Abend in Beschlag, wurde zwischendurch jedoch nicht nur von Werbung unterbrochen, sondern auch mit Interviewparts „aufgelockert“, wenn man dies in diesem Zusammenhang überhaupt so nennen kann. Kurzum: Auch wenn es allein aufgrund des Themas schwerfiel, so gab der Kölner Privatsender seinem Publikum zeitweise die Gelegenheit, um kurz durchzuatmen. Der explizit fürs Kino konzipierte Film „Gefangen im Netz“ dauert geschlagene 100 Minuten und wer sich das Projekt auch wirklich auf der Leinwand (und nicht etwa später in seiner Heimkinoauswertung) anschaut, der hat eben einfach keine Möglichkeit, sich den zahlreichen Eindrücken auf der Leinwand zu entziehen. Wobei „Entziehen“ an dieser Stelle wortwörtlich zu verstehen ist. Denn auch wenn sich das Regieduo aus Barbora Chalupová und Vít Klusák („Good Driver Smetana“) um einen fast schon wissenschaftlichen Anspruch bemüht hat (es gibt ein penibel ausgestattetes Filmstudio, zahlreiche Seelsorger:innen verschiedener Art sind vor Ort und im Nachgang wurden sogar polizeiliche Ermittlungen aufgenommen), so verschiebt sich mit der Zeit die Wahrnehmung von „Ich schaue da gerade einem wissenschaftlichen Experiment zu!“ hin zu „Ich werde gerade Zeuge menschlicher Abgründe!“ dahingehend, dass eine emotionale Distanzierung kaum noch möglich ist.

„Der explizit fürs Kino konzipierte Film „Gefangen im Netz“ dauert geschlagene 100 Minuten und wer sich das Projekt auch wirklich auf der Leinwand (und nicht etwa später in seiner Heimkinoauswertung) anschaut, der hat eben einfach keine Möglichkeit, sich den zahlreichen Eindrücken auf der Leinwand zu entziehen. Wobei „Entziehen“ an dieser Stelle wortwörtlich zu verstehen ist.“

Um die Dringlichkeit ihres Anliegens zu unterstreichen, greifen die Macher:innen mitunter zu radikalen Mitteln. Insbesondere die (verpixelte) Einblendung zahlreicher männlicher Geschlechtsteile in Kombination mit anzüglichen Nachrichten, die – wir wiederholen das noch einmal – gerade wissentlich von Erwachsenen an Minderjährige geschickt werden, treffen selbst abgehärteten Zuschauerinnen und Zuschauern mächtig in die Magengrube. „Gefangen im Netz“ liefert weniger Antworten abseits des bekannten Appells an Eltern und Erziehungsberechtigte, die Internetgewohnheiten ihrer Schützlinge im Auge zu behalten und das Verhalten der Kinder genau zu analysieren. Stattdessen veranschaulicht die Dokumentation, wie dreist und unvorsichtig die Täter vorgehen können, wenn die jungen Menschen nicht sofort realisieren, was ihr neuer Chatfreund für Absichten hat. Das entkräftigt das Argument, dem eigenen Kind würde so etwas nie passieren, denn die Mechanismen hinter derartigen Taten sind oft dermaßen simpel (Sympathieerschleichung ist hier das A und O), dass selbst smarte Kids in unsteten geistigen Reifephasen nicht davor gefeit sind, solchen Menschen auf den Leim zu gehen. „Gefangen im Netz“ will weniger neue Lösungsansätze bieten als sensibilisieren.

Darstellerin Sabina Dlouhá beim Chatten.

Dass dieses Experiment mit jugendlich aussehenden, jedoch volljährigen Schauspielerinnen bestückt wurde (in der RTL-Fassung komplettierte ein Junge das Darsteller:innentrio) und nicht etwa mit tatsächlich Minderjährigen, ist eine gewiss notwendige Selbstverständlichkeit. Denn es bedarf für ein derartiges Experiment ein Verständnis gegenüber der Thematik – allen voran, um selbst eine Distanz zum Geschehen aufzubauen. Trotzdem fällt es dem Ensemble sowohl vor als auch hinter der Kamera oft sichtbar schwer, vollständig aus der Regie-, Produzenten- oder Darstellerinnenperspektive zu agieren. Jedem und jeder im Team geht die Dreistigkeit der Cybergroomer nah. Für die geistige Stabilität aller Beteiligter stand jederzeit psychologische Unterstützung zur Verfügung. Barbora Chalupová und Vít Klusák legen im fertigen Film offenkundig viel wert darauf, die während der Dreharbeiten vorherrschende, emotionale Sicherheit für alle Beteiligte zu zeigen; Fast so, als würden sie sich sogar ein Stückweit dafür entschuldigen wollen, die Mitwirkenden in eine derartige Situation gebracht zu haben. Trotzdem steht allen an der Dokumentation Beteiligten ihr Anliegen permanent ins Gesicht geschrieben. Und je höher die Schlagzahl gezeigter, sich anbahnender Missbrauchsszenarien im Film, desto mehr versteht man auch als Zuschauer:in, weshalb eine derartige Veranschaulichung menschlicher Abgründe notwendig ist. Wenn auch nur einem Kind durch diesem Film geholfen ist, hat „Gefangen im Netz“ sein Ziel erreicht. Dennoch muss man bei diesem Ansatz auch zugeben: Den Tätern wird in diesem Film eine wesentlich größere Wichtigkeit eingeräumt als den Opfern. Da war ausgerechnet die deutsche Variante etwas mannigfaltiger aufgestellt, für die unter anderem Eltern von betroffenen Kindern ins Studio eingeladen wurden.

„Jedem und jeder im Team geht die Dreistigkeit der Cybergroomer sichtbar nah. Für die geistige Stabilität aller Beteiligter stand jederzeit psychologische Unterstützung bereit.“

Aus rein filmischer Sicht gesprochen, besticht „Gefangen im Netz“ durch seine Unmittelbarkeit. Ein Großteil der Doku spielt sich in den verschiedenen Chatrooms und Foren ab. Die Leinwand ist permanent mit anzüglichen Chatverläufen bestückt. Ab und zu sieht man männliche Geschlechtsteile und Männer, die eindeutige Gesten machen. Erst gen Ende bewegt sich das Experiment aus diesem geschützten Raum heraus. Dann nämlich, wenn die Kamera den Schauspielerinnen dabei folgt, wie diese sich auf echte Treffen mit ihren Onlinebekanntschaften einlassen. Das Wissen darum, das auch in diesen Momenten permanent ein Betreuungsstab am Set anwesend war, nimmt diesen Szenerien nur bedingt die Anspannung. Und so ist es einfach durch und durch unangenehm, einen Film wie „Gefangen im Netz“ anzuschauen. Doch genau so soll es sein.

Fazit: Ein Dokumentarfilmexperiment, das später sogar Pate stand für eine deutsche Variation, die einst zur besten Sendezeit im Privatfernsehen ausgestrahlt wurde: „Gefangen im Netz“ ist immer wieder nur schwer mitanzusehen, doch die Präzision des Versuchsaufbaus und der aufklärerische Mehrwert sowie die damit einhergehende Dringlichkeit dessen machen diesen Film zu einem schmerzhaften Must-See.

„Gefangen im Netz“ ist ab dem 24. Juni in den deutschen Kinos zu sehen. Schulen steht auf Anfrage eine gekürzte Fassung zur Verfügung.

Und was sagst Du dazu?