Der weiße Tiger

Der Bestseller DER WEISSE TIGER von Aravind Adiga blickt auf das weit auseinander klaffende Klassensystem Indiens. Nun kommt die Geschichte über Gier und Ungleichheit zu Netflix. Ob die Romanverfilmung überzeugt, verraten wir in unserer Kritik.

OT: The White Tiger (IND/USA 2021)

Der Plot

Balram Halwai (Adarsh Gourav) wurde in dem Teil Indiens geboren, den er „das Indien der Dunkelheit“ nennt: Armut und Hunger, so weit das Auge reicht – und durch die Massen streifende Touristen, die mal einen „exotischen Ort“ kennenlernen und im vor Fäkalien und Gift stinkenden Ganges badend Erleuchtung suchen. Niemand kümmerte sich um eine nennenswerte Bildung des Jungen, seine Großfamilie ist seit der Mitgift eines Cousins schwer verschuldet – und sie steht unter der strengen Fuchtel Balrams launischer Großmutter. Schon als kleines Kind musste Balram mit Jobs Geld verdienen, damit seine Familie nicht völlig aushungert. Eine Stelle als Diener ist für ihn bereits ein gesellschaftlicher Aufstieg, auch wenn er mit Konkurrenz innerhalb der Bediensteten einhergeht. Aber Balrams Ehrgeiz ist geweckt – und so arbeitet er sich zum Chauffeur (und Gelegenheitsdiener) eines kürzlich aus Amerika zurückgekehrten, wohlhabenden Paares auf. Während Ashtok (Rajkummar Rao) und Pinky (Priyanka Chopra) in einem geräumigen Anwesen leben, schläft Balram in einem staubigen Keller, der in seinen Augen genauso gut ein Palast sein könnte. Eine schicksalsträchtige Nacht soll aber alles ändern…

Kritik

Der indische Journalist Aravind Adiga eroberte 2008 mit seinem Debütroman „Der weiße Tiger“ die Bestsellerlisten sowie die Herzen des Feuilletons und seines Branchenkollegiums. Unter anderem wurde der Roman, in dem Adiga mit beißendem, bitterem Humor nicht nur Indiens Kastensystem, sondern auch Gier, Globalisierung und Korruption auseinandernimmt, mit dem Man Booker Prize prämiert. Wo viel Lob ist, ist aber auch ein unvermeidlicher Backlash: „Der weiße Tiger“ sorgte für kleinere Kontroversen, weil der Protagonist des Buchs, der die Geschichte in Form von E-Mails nacherzählt, ein knallharter, reueloser Typ ist, der seine Vorurteile und verkorksten Wertevorstellungen nicht verbirgt. Er haut unverschämt Stereotypen, intolerante Weltanschauungen, rassistische sowie religiöse Vorurteile raus und sieht sich trotz unverzeihlicher Taten und Charakteristiken als Siegertyp. Allerdings vergessen so manche Kritiker:innen dieses Aspekts von „Der weiße Tiger“, zwischen Adiga und seiner fiktiven Figur zu trennen – dass Adiga Balrams moralischen Verfall und seinen wirtschaftlichen Anstieg respektive den Aufschwung seines gesellschaftlichen Ansehens korrelieren lässt, ist weder Zufall noch Verherrlichung.

Balram (Adarsh Gourav), Pinky (Priyanka Chopra Jonas) und Ashok (Rajkummar Rao).

So sehr der Roman mit der Schilderung des Status Quo in den armen Regionen Indiens erschüttern will, so sehr will er auch die Halsabschneiderei, Raffgier, Heuchelei und das sie umgebende Elend ausblendende Ignoranz der Oberschicht anklagen. Nicht umsonst ist eine der Schlüsselbeobachtungen, die Balram in seinen E-Mails ausformuliert, dass Reiche mit dem Luxus geboren sind, Möglichkeiten verschwenden zu dürfen. Leute wie er dagegen können nicht einfach darauf warten, in einem Quiz ausgleichende Gerechtigkeit in Form eines Millionengewinns zu erhalten („Slumdog Millionär“ lässt grüßen!) – sie müssen einen moralischen Preis zahlen, um nicht weiter in einem symbolischen Hühnerkäfig gefangen zu sein (sondern vielleicht in einem goldenen Tigerkäfig). Simpler ausgedrückt: Man kann  mit Herzlosigkeit seine wohlhabende Position verteidigen – oder muss sich durch Herzlosigkeit erst eine wohlhabende Position ergaunern. Das ist keine neue Erkenntnis, auch wenn der Hype über so manchen Oscar-Abräumer es einen denken lassen würde, wohl aber eine, die angesichts der vielen Vom-Tellerwäscher-zum-Millionär-Kitschgeschichten nicht oft genug betont werden kann.

„Man kann  mit Herzlosigkeit seine wohlhabende Position verteidigen – oder muss sich durch Herzlosigkeit erst eine wohlhabende Position ergaunern.“

Filmregisseur und Autor Ramin Bahrani („Chop Shop“), der bisher intensive, bewusst unsubtile Gesellschaftsdramen verantwortete und mit dem „Der weiße Tiger“-Autoren Aravind Adiga befreundet ist, nimmt diese Vorlage und wagt einen Sprung näher an den Mainstream: Seine Verfilmung des Bestsellers dürfte als Netflix-Originalfilm ein für ihn ungewohnt großes Publikum erreichen – und der schnippische Witz, mit dem er das Material verfilmt, sollte „Der weiße Tiger“ auch in der Breite zugänglicher machen als viele seiner früheren Filme. Und dennoch bleibt Bahrani  unangepasst und erarbeitet sich redlich einen fies platzierten Seitenhieb auf eine berühmte, filmische „Aus arm wird reich“-Indiengeschichte: Wo Danny Boyles „Slumdog Millionär“ das Leid in indischen Slums und die Raffgier unter den Reichen mit „Bescheiden und glücklich“-Romantik, „Ehrlich währt am längsten“-Moral und Urlaubslust weckenden Farbtupfern auflockert, ist „Der weiße Tiger“ kompromisslos. Ja, Balrams peppige Erzählkommentare, der Soundtrack (unter anderem mit Panjabi MC und den Gorillaz) macht Laune und oberflächlich betrachtet haben Balrams Arbeitgeber Ashtok und Pinky Charme. Doch Bahrani findet stets einen Weg, das Geschehen bitter, tragisch oder frustrierend fortzuspinnen. Erfolge kommen hier stets auf den Kosten anderer, Ungleichheit kann entweder boshaft ausgenutzt oder unmoralisch geduldet werden – anderweitige Optionen existieren nicht.

Balram und Ashok vor einem Luxushotel.

Newcomer Adarsh Gourav brilliert darin, im Laufe der Erzählung Balram vom unterwürfigen Niemand zum von Ungerechtigkeit erzürnten Kämpfer für sich selbst und, das macht der Film noch im ersten Akt deutlich, letztlich zu einem weiteren amoralischen Reichen zu verwandeln. Gestus, Stimmfarbe, seine Bewegungen – alles mutiert graduell und macht Balram bei allen Makeln zu einer faszinierenden Filmfigur. Aber auch die Art, wie Rajkummar Rao und Priyanka Chopra verdeutlichen, wie garstig ihre Figuren unter ihrer verlogenen Freundlichkeit und Pseudo-Bescheidenheit sind, hinterlässt bleibenden Eindruck. Dass Bahrani seinem Publikum gar keinen moralischen Kompass gestattet und im dritten Akt durch Balrams von Anfang an angekündigten Charakterwandel hetzt, kann durchaus frustrieren. Ersteres ist nur konsequent (auch wenn es dafür sorgen dürfte, dass sich manche Interessenten früh emotional ausklinken), Zweiteres dagegen kürzt den zuvor bei aller narrativen Knackigkeit dennoch detaillierten Film leider in entscheidenden Momenten ab. Trotzdem ist diese unromantische „Slumdog Millionär“-Antwort ein sehenswertes, beißend-gewitztes Sozialdrama.

„Newcomer Adarsh Gourav brilliert darin, im Laufe der Erzählung Balram vom unterwürfigen Niemand zum von Ungerechtigkeit erzürnten Kämpfer für sich selbst und, das macht der Film noch im ersten Akt deutlich, letztlich zu einem weiteren amoralischen Reichen zu verwandeln.“

Fazit: „Slumdog Millionär“ ohne Kitsch und Romantik: Die Bestselleradaption „Der weiße Tiger“ ist eine bös-pfiffige Abrechnung mit Gier und Ungerechtigkeit.

„Der weiße Tiger“ ist ab dem 22. Januar bei Netflix streambar.

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