Schwesterlein

Die Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond erzählen in SCHWESTERLEIN von einem Zwillingspaar, das sich dem Thema Krebs stellt. Ob das Drama mit Lars Eidinger und Nina Hoss glänzt, verrät unsere Kritik…
Der Plot
Lisa (Nina Hoss) war einst eine erfolgreiche Autorin in der Berliner Theaterszene. Doch dann zog sie mit ihrem Ehemann und den gemeinsamen Kindern in die Schweizer Berge. Dort wurde Lisa von einer Schreibblockade heimgesucht. Ihr Bruder Sven (Lars Eidinger) erlebt ein noch schlimmeres Schicksal: Bei ihm wurde Leukämie diagnostiziert. Als der ebenso charismatische wie ambitionierte Schauspieler nach einer schlauchenden Behandlung aus dem Krankenhaus entlassen wird, will er sich sofort wieder auf die Bühne begeben und seine geplante Hauptrolle in einer Neuinszenierung von „Hamlet“ einnehmen. Doch sein Regisseur ist völlig zerrissen: Er will „Hamlet“ nicht ohne Sven spielen – erstens, weil er ein Zugpferd ist, zweitens, weil ihm niemand im Ensemble in der Rolle das Wasser reichen kann. Andererseits will er Sven aber nicht zumuten, im angeschlagenen Zustand drei Stunden auf der Bühne zu stehen und eine derart an die Nieren gehende Rolle zu spielen. Auf Familienseite wiederum ist Lisa ungeheuerlich von ihrer narzisstischen Mutter genervt, die sich nicht ausreichend um Sven kümmern kann und will. Also beschließt Lisa kurzerhand, Sven mit zu sich zu nehmen. Die Intensität der Bruder-Schwester-Dynamik hat allerdings negative Auswirkungen auf ihre Ehe. Dafür bringt die gemeinsame Zeit mit Sven wieder Lisas kreative Säfte zum Fließen …
Kritik
Anfangs erwecken die Autorinnen und Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond (inszenierten bereits gemeinsam das Drama „Das kleine Zimmer“) mit „Schwesterlein“ den Anschein, ein halbfiktionales Drama über Theater-Kunstschaffende erzählen zu wollen: Nina Hoss („Pelikanblut“) spielt die sich auf sie reimende Lisa, die zwar anders als Nina Hoss keine Schauspielerin ist, aber dafür als Autorin für viel Furore auf der Bühne sorgte. Und während Lisa von ihrem Gatten in die Schweiz gelockt wurde, wo sie eine Schreibblockade entwickelte, wurde Nina Hoss halt vom Schauspiel vor der Kamera von der Bühne abgelenkt. Lars Eidinger („Abgeschnitten“) wiederum spielt in „Schwesterlein“ den ebenfalls mit einem nordischen Vornamen gesegneten Sven – und bei ihnen sind die Ähnlichkeiten zwischen Fakt und filmischer Fiktion noch deutlicher als bei Nina und Lisa.
Sven wird als exzentrischer, aber auch immens passionierter Theaterdarsteller beschrieben, als jemand, der die Ticketverkäufe ankurbelt und der einen hervorragenden Hamlet abgibt. All das trifft genauso auf Lars Eidinger zu – und wenn „Schwesterlein“ hinter den Kulissen der Schaubühne spielt, so schmücken Fotografien von Eidingers früheren „Hamlet“-Darbietungen die Wände. Und dann spielt auch noch Theatermacher Thomas Ostermeier, der Eidinger seit 2008 357 Mal als Hamlet inszenierte, Svens befreundeten, besorgten Regisseur David. Doch dieses Spiel mit der Wirklichkeit ihrer Darsteller und der Fiktionalität ihrer Geschichte lassen die Regisseurinnen Stéphanie Chuat und Véronique Reymond alsbald fallen. Dem Kokettieren mit der Metafiktionalität folgt ein ruhig erzähltes, aber auch sehr klischeehaft abgewickeltes Krebsdrama: Sven leidet an Leukämie und sein Zustand verschlechtert sich kontinuierlich, mit stetig schwindenden Aussichten auf Besserung. In dieser Stunde der Not ist sein „Schwesterlein“ sorgend für ihn da, obwohl er doch beteuert, dass er es sein müsste, der sie beschützt.
„Dem Kokettieren mit der Metafiktionalität folgt ein ruhig erzähltes, aber auch sehr klischeehaft abgewickeltes Krebsdrama: Sven leidet an Leukämie und sein Zustand verschlechtert sich kontinuierlich, mit stetig schwindenden Aussichten auf Besserung.“
Während sich die Schwester entgegen dämlicher Gender-Rollenverteilungen als Beschützerin des Bruders bewährt, gefährdet Lisas ständige Sorge um Sven ihre Ehe. Obwohl, streng genommen, ihr Gatte die Ehe ganz alleine sabotiert: Vollkommen stur, die familiäre Ausnahmesituation Lisas ignorierend, besteht Lisas Mann andauernd, unfähig zum Kompromiss, auf seinen Punkt. Er will so schnell wie möglich zurück in die Schweiz, er will die Kinder trotz Lisas immer größer werdende Proteste an einer Privatschule für Oligarchenkinder und Industriesprösslinge aus Dubai anmelden. Austausch auf Augenhöhe? Fehlanzeige. Und trotz einer Szene, in der er mit Sven Sport macht, um ihn abzulenken, zeichnen Chuat und Reymond Lisas Mann so stoisch-antagonistisch, dass die Eheprobleme Lisas gar nicht dramaturgisch ernstgenommen werden können: Wo soll ein Dilemma zwischen Ehe und Blutsverwandtschaft entstehen, wo keine Zwickmühle besteht, sondern die einfache Wahl zwischen einem Cartoon-Fiesling und einem leidenden, sensiblen Bruder?

Die beiden Geschwister mit den Kindern Linne-Lu (Linne-Lu Lungershausen) und Noah (Noah Tscharland).
Und auch abseits Lisas Ehesorgen sind die Dialoge dieses Krebsdramas öfters kitschig-klischeehaft geraten – was im Zusammenspiel damit, dass der Film trotz seiner kühlen Ästhetik in Blau, Giftgrün und Grau auf visueller Ebene sehr sauber und harmlos wirkt, der Geschichte die Schonungslosigkeit nimmt. „Schwesterlein“ ist keine Tragikomödie und will wohl auch keine sein, doch für ein Drama über Kunstschaffende, die im Angesicht einer gesundheitlichen Tragödie unterschiedliche Wege gehen (er kann nicht mehr schauspielern, sie hat endlich wieder Ideen), schaut der Film zu oft weg, wenn es unangenehm werden könnte. So sehr „Schwesterlein“ in ein Niemandsland abdriftet: Eidinger und Hoss holen das Optimum aus dem Material heraus. Eidingers Sven ringt glaubwürdig mit seinem Krankheitsverlauf, gleitet unberechenbar vom Aufbegehren zu schmerzvollem Leiden zu Ignoranz zu Akzeptanz, während Hoss als Lisa scheinbar beiläufig noch größere Berg-und-Tal-Fahrten unternimmt – intensiv und mit Rückgrat kämpft sie um ihren Lebensentwurf, ihre Ehe, das Wohlsein ihres Bruders sowie gegen die Schreibblockade an. All das, während ihr wenig Beachtung geschenkt wird. Das Schwesterlein ist die wahre Kämpferin, selbst wenn es sich nicht als solche aufplustert, sondern einfach macht – schade, dass auch dieses Identitätsspiel in „Schwesterlein“ nur eine Klammer ist, die ein gefällig-austauschbares Krankheitsdrama umrahmt.
„Eidingers Sven ringt glaubwürdig mit seinem Krankheitsverlauf, gleitet unberechenbar vom Aufbegehren zu schmerzvollem Leiden zu Ignoranz zu Akzeptanz, während Hoss als Lisa scheinbar beiläufig noch größere Berg-und-Tal-Fahrten unternimmt.“
Fazit: Zwei sehr gute Performances ergeben halt noch keinen bemerkenswerten Film: „Schwesterlein“ ist ein ruhiges Krebsdrama, das sich nicht so richtig traut, eine klare filmische Identität auszustrahlen.
„Schwesterlein“ ist ab dem 29. Oktober 2020 in deutschen Kinos zu sehen.