Life, Animated

In der oscarnominierten Dokumentation LIFE, ANIMATED gibt ein Elternpaar einen Einblick in das Leben mit ihrem autistischen Sohn Owen, der über Disney-Filme das Kommunizieren mit der Außenwelt lernte. Berührend oder manipulativ? Das verrate ich in meiner Kritik.
Darum geht’s
Im Alter von drei Jahren hört ein gesunder und aufgeweckter Junge namens Owen Suskind plötzlich und ohne Vorwarnung auf zu sprechen. Er verschwindet völlig und scheinbar ausweglos in seiner eigenen Welt. Die Diagnose: Autismus. Fast vier Jahre vergehen, in denen Owen ausschließlich auf Disney-Filme zu reagieren scheint. Eines Tages streift sein Vater im Spiel eine Handpuppe über – Jago, den Sprüche klopfenden Papagei aus „Aladdin“ – und fragt seinen Sohn: „Wie ist das eigentlich, wenn man so ist wie du?“ Und – Peng! – Owen spricht seine ersten Worte seit Jahren – und antwortet mit Dialogen aus seinen heißgeliebten Disney-Filmen. „Life, Animated“ erzählt die unglaubliche Geschichte des Autisten Owen, der durch Disney-Animationen seinen Weg zur Sprache wiederfindet und somit einen Weg mit seiner Umwelt in Kontakt zu treten.
Kritik
Die Feststellung, dass man „für Disneyfilme nie zu alt“ sei, bekräftigen Fans des Mäusekonzerns gern auf T-Shirts, mithilfe von Memes oder über sämtliche andere Formen von Merchandise. Dabei müssten sie das gar nicht – auch wenn fast jeder von uns mit Zeichentrick- und Animationsfilmen aufgewachsen ist, da sich hartnäckig das Gerücht hält, derartige Filmkunst sei ja eben tatsächlich nur etwas für Heranwachsende, sind doch gerade Disney-Filme bis oben hin vollgestopft mit altersübergreifenden Botschaften; von den Gags, die ohnehin nur Erwachsene verstehen, ganz zu schweigen. Der Grund für die besondere Eignung für Kinder liegt viel mehr an der leicht durchschaubaren Dramaturgie, einhergehend mit der simplen Zeichnung von Gut und Böse sowie klar formulierten Messages. Alles Dinge, die sich auch auf die Realität übertragen lassen. Ganz so, wie es der dreijährig am Autismus erkrankte US-Amerikaner Owen Suskind auch getan hat. Fremde Menschen kennenlernen, Konflikte erkennen (und im besten Fall lösen), mit einer solchen Störung als schwierig empfundene Sachverhalte einordnen – all das war Owen Suskind dank seiner gezeichneten Vorbilder möglich. Und da „Ein kleiner Junge lernt mithilfe von Trickfiguren die Welt kennen“ wie geschaffen dafür ist, um daraus selbst wiederum einen Film zu machen, hat sich Dokumentarregisseur Roger Ross Williams (zu seinen bisher bekanntesten Projekten gehört die Inszenierung diverser „Undercover Boss“-Folgen) mithilfe von Owens Eltern daran gewagt, den außergewöhnlichen Lebensweg des jungen Mannes von außen zu beleuchten. Ein schwieriges Unterfangen, denn natürlich ist Owens Schicksal fast schon von Natur aus rührend. Der Weg von der nüchternen Berichterstattung, hin zum manipulativen Tränenzieherkino ist daher ein ganz schmaler, den Williams nicht fehlerfrei begeht.
„Life, Animated“ war Anfang des Jahres sogar für den Oscar als bester Dokumentarfilm nominiert, musste sich dann allerdings von der umstrittenen (da nicht im Kino, sondern im Fernsehen ausgestrahlten) Reportagereihe „O.J.: Made in America“ geschlagen geben. Doch schon die Auszeichnung als einer der besten Dokumentationen der vergangenen Saison verwundert, denn einen journalistischen Mehrwert sucht man in Williams‘ Film vergeblich. Mitunter hat man gar das Gefühl, der Filmemacher hätte lieber einen Spielfilm gedreht, allerdings nicht gewusst, wie er diesen so umsetzen könne, dass man ihn am Ende nicht als pure Gefühlsduselei versteht. So wirkt schon das jetzige Ergebnis äußerst seicht und in seiner emotionalen Fokussierung auf Owen und seine Eltern manipulativ. Mutter und Vater Suskind fungieren zwar ebenso wie ihr Sohn als regelmäßig ihr Statement abgebende Interviewpartner, doch gerade die Eltern kommen über das Betrauern ob des zeitweisen Verlusts ihres Sohnes respektive die Freude über die positive Entwicklung desselben nicht hinaus. Lediglich zu Beginn ordnen eine Handvoll Sätze aus dem Off den Krankheitsverlauf von Owen Suskind halbwegs fachlich ein, doch als Unwissender schaut sich „Life, Animated“ eher wie ein oberflächlich inszeniertes Drama, denn eine tiefgreifende, geschweige denn aufklärende Dokumentation über das Thema Autismus. Und dass Regisseur Roger Ross Williams in Interviews immer wieder betont, sein Antrieb für den Film wäre vor allem das Thema Außenseitertum gewesen, nimmt man ihm auch nicht so ganz ab. Eine Person wie Owen Suskind zu wählen, um anhand ihm ein Außenseiter-Schicksal zu erzählen, wäre so, als würde man „Schwiegertochter gesucht“ als aussagekräftige Veranschaulichung des deutschen Singlelebens betrachten. Dieser Owen ist definitiv ein netter Kerl, fungiert hier allerdings wie ein Vorführobjekt – und das Tragische ist, dass man ihn noch nicht einmal fragen kann, ob er dieses ganze Filmprojekt überhaupt wollte.
Owen Suskind ist ein leidenschaftlicher Disneyfan und lebt diese Passion vor der Kamera des Regisseurs aus, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, um das umstehende Drehteam zu wissen. Dies lässt sich auf zwei Arten deuten: Entweder war ihm der Umstand seines Films tatsächlich (und im positiven Sinne) gleichgültig oder wurde sogar befürwortet, oder ihm war die Bedeutung der Kamera nicht bewusst – bei einem Autisten wäre das nicht auszuschließen. Es hinterlässt schon einen faden Beigeschmack, nicht zu wissen, ob dieser charmante, interessante und offene Junge überhaupt weiß, dass seine Geschichte später auf der Leinwand zu sehen ist; erst recht, wenn die Kamera später live dabei ist, wie seine erste Freundin mit ihm Schluss macht oder sich Owens Bruder Walter an ein erstes Aufklärungsgespräch wagt (denn in Disneyfilmen steigt das glückselige Paar nun mal nicht gemeinsam in die Kiste). Da macht es auch überhaupt keinen Unterschied, dass ein Großteil des Films absolut herzlich und stets im Sinne des Protagonisten gedreht ist – wie inszeniert Szenen sind, in denen Owen vor laufender Kamera überraschend auf zwei Synchronsprecher aus „Aladdin“ trifft, sei an dieser Stelle einmal dahingestellt. Die Prämisse von „Life, Animated“ basiert scheinbar auf dem Stolz zweier Eltern darüber, wie ihr von der Gesellschaft zwangsläufig ausgeschlossener Sohn wieder zu einer Eingliederung in dieselbe findet. Diese unvergleichliche, schlichtweg vorzeigbare Geschichte wurde von Vater Ron Suskind schließlich auch schon im gleichnamigen Buch festgehalten. Den beiden Ruhm- und Mediengeilheit vorzuwerfen, wäre daher reine Spekulation. Nicht zuletzt, weil die Eltern vor der Kamera einen charismatischen, aufrichtigen Eindruck erwecken. Doch Williams konzentriert sich bei seiner Inszenierung zu wenig auf die Hintergründe und kann damit nicht dazu beitragen, das Gezeigte mit Fakten und Tatsachen zu unterfüttern. So bleibt am Ende eine nicht zu leugnende Unsicherheit beim Zuschauer.
„Life, Animated“ funktioniert somit vornehmlich über Behauptungen, die man als Zuschauer, der bei den vielen Ereignissen in Owens Vergangenheit nun mal nicht dabei war, für bare Münze nehmen muss, um den Film nicht sofort als Humbug abzutun. Manche Dinge in Owens Vita fühlen sich tatsächlich zu schön an, um wahr zu sein. Doch im späteren, ebenfalls von den Eltern erläuterten Kontext ergeben sie immerhin einen solchen Sinn, dass man als Zuschauer zu dem Schluss kommt, dass das alles so oder so ähnlich schon irgendwie gestimmt haben wird. Und tatsächlich gibt es in „Life, Animated“ auch manch einen Erzählteil, der richtig gelungen ist. Dazu zählen vor allem die den Disneyvorbildern nachempfundenen Zeichentricksequenzen, mit deren Hilfe verschiedene Themenpunkte des Films nachgestellt werden – so zum Beispiel auch der von Owen selbst gezeichnete Comic „The Land of the Lost Sidekicks“, der auch direkt zur sich am ehrlichsten anfühlenden Episode des gesamten Filmes wird. Darüber hinaus sind es vor allem die Gespräche zwischen Owen und seinem Bruder, in denen das Publikum für einen kurzen Moment den Eindruck hat, dass hier tatsächlich realistische, menschliche Gefühlsregungen zu sehen sind. Denn Walter Suskind wirkt anders als der Rest der Familie so gar nicht kamerageübt und verleiht dem Film damit in den Momenten seines Auftritts jene Authentizität, die man an anderer Stelle so schmerzlich vermisst.
Fazit: Mit Ausnahme einer Handvoll Szenen gelingt es Regisseur Roger Ross Williams die meiste Zeit über nicht, den Eindruck zu erwecken, „Life, Animated“ sei nicht von vorn bis hinten durchgeplant und gescripted. So wirkt sein Film selektiv rührselig, nicht authentisch und auch wenn er immer im Sinne seiner Hauptfigur handelt, bleibt am Ende die Frage offen, wie viel Mitspracherecht Owen eigentlich beim Drehen hatte.
„Life, Animated“ ist ab dem 22. Juni in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.