Sag nicht, wer du bist!

Kanadisches Kino hat hierzulande eine relativ kleine Lobby. Filme aus Übersee, Frankreich oder die aus eigenen Landen machen den Großteil der jährlich in die Kinos kommenden Filme aus. Xavier Dolans betörende Charakterstudie SAG NICHT, WER DU BIST!, die international auch unter dem Titel „Tom at the Farm“ bekannt ist, startet hierzulande zwar nur in ausgewählten Kinos, ist jedoch gerade für Cineasten einen Gang ins Filmtheater wert.
Der Plot
Der junge Tom (Xavier Dolan) aus Montreal fährt aufs Land, um am Begräbnis seines verunglückten Lovers teilzunehmen. Als er beim einsamen Gehöft der Familie eintrifft, stellt er überrascht fest, dass ihn keiner erwartet. Die Mutter Agathe (Lise Roy) weiß noch nicht einmal, dass ihr Sohn schwul war. Und der ältere Bruder Francis (Pierre-Yves Cardinal) macht ihm blitzschnell mit Nachdruck klar, dass das so bleiben muss. Überrumpelt gibt Tom nach – und lässt sich auf ein seltsames Katz-und-Maus-Spiel mit dem Heißsporn ein, das ihn von Tag zu Tag mehr in seinen Bann zieht…
Kritik
Das Genre des Psychodramas gehört vermutlich zu den intensivsten. Während beim Thriller zumeist der Adrenalinkick im Mittelpunkt steht und sich vor allem Gelegenheitskinogänger an der Schwere konventionell inszenierter Filmdramen stören, ergibt die Kombination aus psychoanalytischem Suspense und Charakterstudie mit dramatischem Einschlag eine Mischung, derer sich zu entziehen alsbald schwer fällt. Der kanadische Regisseur und Schauspieler Xavier Dolan, der mit seinen vorausgegangenen drei Werken „I Killed my Mother“, „Herzensbrecher“ sowie „Laurence Anyways“ unbeabsichtigt eine Trilogie über das Thema der unmöglichen Liebe inszenierte, bleibt sich auch in seinem neusten Werk „Sag nicht, wer Du bist“ seines psychedelischen Erzählstils treu, ohne dabei auf Effekthascherei oder überbordende Storytwists zurückgreifen zu müssen. Vor der nüchternen und dadurch so berauschenden Kulisse der unberührt-schroffen Natur des kanadischen Hinterlandes skizziert Dolan ein undurchdringbares Katz-und-Maus-Spiel zweier Männer, deren von modernen Sehgewohnheiten unbeeindrucktes Spiel ebenso fesselt wie fasziniert. Damit springt Dolan auf einen Zug von Independent-Filmern auf, als deren Spannungselement sich nach und nach die Unberechenbarkeit der Prämisse erweist. Ähnlich verfuhren in diesem Jahr bereits Filmemacher wie Steven Knight („No Turning Back“), Kelly Reichardt („Night Moves“) und Sci-Fi-Regisseur William Eubank („The Signal“).
Vielversprechend und bedrohlich, so präsentiert sich „Sag nicht, wer du bist!“ bereits in der Eröffnungsszene, wenn der auffällig blondierte Xavier Nolan zum Sound eines kraftvollen Chansons eine nicht enden wollende Straße entlangfährt. Die unheilvolle Landschaft, in deren Mitte der halb-verfallende Bauernhof des nach außen hin sonderbar wirkenden Mutter-Sohn-Gespannes Agathe und Francis liegt, bildet die ideale Kulisse für ebenjenes Psychodrama des kanadischen Regisseurs, das trotz seines kraftvollen Intros in Gänze auf einen Spannungsaufbau durch Lethargie und eine kunstvolle Behäbigkeit setzt. So wuchtig wie die Frauenstimme innerhalb des Eröffnungssongs präsentiert sich gleichsam die Interaktion unter den Darstellern. Das ursprünglich als Theaterstück konzipierte Psychospiel hat davon genau drei, wovon sich keiner in den Vordergrund spielt und ebenso wenig in den Hintergrund rücken lässt. Zwischen Xavier Dolan und Pierre-Yves Cardinal herrscht ab dem ersten Aufeinandertreffen eine enorme Spannung, deren Intensität von Anziehung, gegenseitigem Abwerten und sensibler, sexueller Begierde geprägt ist. Nicht umsonst bekommt der Zuschauer Cardinals Francis bei dessen erstem Auftritt lange Zeit nicht direkt zu Gesicht. Vielmehr heftet dieser sich wie ein Schatten an den schmächtigeren Tom und macht dem Publikum somit symbolhaft faszinierend die gegenseitige Abhängigkeit voneinander bewusst. Komplettiert wird das Darstellertrio von Lise Roy als Agathe, welche die Rolle auch in der Bühnenvariante innehatte. Ihr Charakter vermag sich für den Betrachter am schwersten zu erschließen, agiert sie doch immer wieder vollkommen entgegengesetzt zu ihrer eigentlichen Figurenausrichtung. Wenn die in stiller Trauer befindliche Mutter plötzlich und ohne Ankündigung einen Lachanfall bekommt und sich zugleich nicht erkennen lässt, wo dieser herrührt, bündelt Regisseur Dolan die Anspannung sämtlicher vorausgegangener Szenerien und lässt diese sich im Gelächter der offenkundig verwirrten Frau entladen. Ein beeindruckender inszenatorischer Kniff.
Immer wieder kombiniert das Skript die beklemmend-realistische Atmosphäre mit äußerst wohl dosierten Adrenalin-Spitzen. Obgleich Dolan sich nicht an gängigen Horrorfilm-Mechanismen bedient und „Sag nicht, wer du bist!“ zu keinem Zeitpunkt eine Horrorgenre-Zugehörigkeit erkennen lässt, kennt der Regisseur die Erwartungshaltung seiner Zuschauer ganz genau und unterläuft diese so gekonnt, dass sein Film aufgrund seiner nervenzerreißenden Spannung zeitweise dem Horrorfilm zuzuordnen sein könnte. Diese Unberechenbarkeit kündigt sich so früh an, dass das Drama von Beginn an einen hohen Suspense-Gehalt auffährt und der Zuschauer über knappe zwei Stunden durchgehend gefordert wird. Gleiches gilt für den Intellekt, den „Sag nicht, wer du bist“ von seinem Publikum erwartet. Zwar ließe sich die kanadische Produktion auch als bloße Momentaufnahme genießen, hinter deren Fassade es sich nicht zwingend zu blicken lohnt, doch ähnlich des deutschen Skandalfilms „Tore tanzt“, der aufgrund seiner hemmungslos sadistischen Erzählweise auch international für Furore sorgte, findet sich der wahre Schockeffekt in der Seele der beiden Hauptcharaktere Tom und Francis. Dabei wollen beide Figuren nicht zwingend analysiert werden. Am intensivsten lässt sich „Sag nicht, wer du bist!“ wohl dann genießen, wenn sich der Fokus auf die Frage legt, welchen Weg der Regisseur in seiner Erzählung einschlägt. Dolan legt seine Charaktere so frei wie möglich an, um schlussendlich jede Handlung ihrerseits zu rechtfertigen. Dies führt dazu, dass mit fortgeschrittener Laufzeit alles passieren kann, ohne unglaubwürdig zu wirken, denn Dolans Figuren sind derart zerrissen, dass ihr auf den ersten Blick willkürliches Handeln nicht lapidar, sondern hilflos daherkommt.
Der Regisseur kleidet seinen Film in unaufgeregte und doch betörend schöne Bilder. Momentaufnahmen von einem verendeten Kalb, das wie in Zeitlupe vom Stall auf die Wiese getragen wird, messerscharfer Mais, der sich wie eine Rasierklinge in die Haut des durch das Feld laufenden Tom bohrt oder ein harter Wasserstrahl, der mit immenser Wucht über die Gehwegplatten streift, werden zu Schlüsselmomenten, welche den rauen Alltag vor ebensolcher Kulisse wiederspiegeln. Gleichzeitig durchbrechen Szenen von ankündigend lasziv miteinander tanzenden Männern ebenjene Kälte, die von solch gegensätzlichen Emotionen sind, dass sie in ihrer Fehlplatzierung umso notwendiger und faszinierender erscheinen. Kameramann André Turpin („Mommy“) weiß genau was er tut. Kein Bild ist von Zufall, keine Einstellung beinhaltet einen Faktor, der in diesem Moment nicht dorthin gehört – eine Pedanz, die an die Werke von Stanley Kubrick erinnert. Selbst die Schwarzblenden besitzen einen genauen Zweck und dienen dazu, die Bedrohlichkeit der Unberechenbarkeit noch zu unterstreichen. Nicht selten lässt Dolan Szenen überraschend abbrechen, um nach einer Blende in gänzlich anderer Umgebung aufzutauchen; oft gehen damit harsche Tempo- und Tonfallwechsel einher. Komponist Gabriel Yared („Zimmer 1408“) untermalt den Film vornehmlich dezent und treibend und passt sich in dynamischen Momenten gar dem Pulsschlag des Zuschauers an. Visuell und akustisch zeigt „Sag nicht, wer du bist!“, wie poetisch Filmemachen sein kann.
Fazit: „Sag nicht, wer du bist!“ dürfte dieses Jahr in so einigen Bestenlisten auftauchen – wohl aber nur derer von Cineasten. Die kanadische Produktion ist ein beeindruckendes Werk, das seine Zuschauer nicht im Mainstreamkino findet. Fans experimenteller und exzentrischer Filmkunst werden von der Perfektion des Streifens betört sein und können sich auf das fesselndste Kinoerlebnis seit „Enemy“ freuen.
„Sag nicht, wer du bist“ ist ab dem 21. August in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.