Irréversible: Straight Cut

Gaspar Noés berühmt-berüchtigtes, rückwärts erzähltes Vergewaltigungs-Thrillerdrama IRRÉVERSIBLE kehrt restauriert und vorwärts laufend zurück. Ob der STRAIGHT CUT eine gute Idee ist, das verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Alex (Monica Bellucci) und Marcus (Vincent Cassel) sind ein glückliches, neckisches Paar – und freuen sich auf eine große Party, bei der unter anderem Alex‘ Ex Pierre (Albert Dupontel) zu Gast sein wird. Er versteht sich mit Marcus blendend, während Marcus oft darüber scherzt, dass Alex ihm was dafür schuldet, dass er mit ihrem Ex rumhängen muss. Auf der Party versucht Marcus, mehr aus dem verschlossenen Pierre raus zu quetschen, der nie über sein Sexualleben spricht, und ihm obendrein eine schnelle Party-Affäre zu besorgen. Alex wiederum verlässt entnervt die aus dem Ruder laufende Party – sie und Marcus werden sich danach nicht mehr wiedersehen…
Kritik
Mitten in der Welle der „Neuen Französischen Härte“ (auch: „New French Extremity“ und „cinéma du corps“), einer Flut an überaus harten und tabulosen französischen Horrorfilmen, sorgte der Argentinier und Wahlfranzose Gaspar Noé („Climax“) für weitreichendes Echo: Sein Experimentalfilm/Thrillerdrama „Irrérversible“ lief 2002 auf den Filmfestspielen von Cannes – sicherlich auch aufgrund seines ungewöhnlichen Erzählstils. Autor und Regisseur Noé montiert die Szenen in umgekehrter chronologischer Reihenfolge, zeigt also den Abspann zuerst (den sogar rückwärts, vom Copyrighthinweis hinauf zur Cast-Liste), dann den Epilog, danach die Szene vor dem Epilog, anschließend das ultra-brutale Finale, und so weiter, und so fort… Quittiert wurde der Film mit einer Nominierung für die Palme d’Or, aber auch mit drei Ohnmachtsanfällen und einer Anzahl von (angeblich) 200 Leuten, die während der 2.600 Personen starken Premiere vor Abschluss des Films den Saal verlassen haben und nicht wiedergekehrt sind.
Neben einem sehr grafischen Mord dürfte es insbesondere die fast zehnminütige, in einer einzelnen Einstellung gezeigte, qualvolle Vergewaltigungsszene sein, die „Irréversible“ so viele Abbrecher:innen eingebracht hat. Sie ist es auch, für die „Irréversible“ abseits von Cannes berühmt-berüchtigt wurde: Noés Film ist unter filminteressierten Menschen fast ausnahmslos als der „rückwärts erzählte Vergewaltigungsfilm“ bekannt, und auch wenn das die Dinge extrem verkürzt, so ist es eine akkurate und fair warnende Beschreibung des ursprünglich 93 Minuten langen Projekts. Die Kontroverse war bei diesem Inhalt ebenso vorprogrammiert wie das Interesse cineastischer Kreise bei dieser Erzählweise. Zumal sich diese beiden Elemente des Films einander ergänzen: Wie unter anderem Kritikerlegende Roger Ebert anmerkte, ist es die Struktur von „Irréversible“, durch die dieses Werk seiner Grenzüberschreitung zum Trotz moralisch bleibt. Wir sehen zuerst die fatalen Folgen eines rachelüsternen Versuchs der Selbstjustiz, dann den unbefriedigenden, tumben, widerlich-drastischen Racheakt (der dem Publikum die Katharsis verweigert, weil es noch nichts gibt, wovon wir erlöst werden wollen) und dann erst den Auslöser.
Hinzu kommen noch die Bild- und Klangästhetik von „Irréversible“, denn Noé wirbelt seine Kamera häufig desorientierend durch die von Benoît Debie („Spring Breakers“) unsexy-ultradramatisch ausgeleuchteten Schauplätze. Und das mehrmals so heftig, bis das Geschehen vollkommen unkenntlich wird. Bloß bei der zentralen Tat verharrt sie, wie das in Schockstarre befindliche Opfer am Boden – womit Noé bezweckt, der Szene jegliche Lust zu rauben sowie etwaiges Identifikationspotential mit dem Täter. Sie soll erdrückend, nur erdrückend sein. Und Komponist Thomas Bangalter (eine Hälfte von Daft Punk) lässt während 60 der 97 Filmminuten einen monotonen, irritierenden Niedrigfrequenz-Signalton heulen, der wahres Unbehagen erzeugt.
Diese stilistische Prämisse geht auf: „Irréversible“ ist ein Film, den man für eine (beeindruckend konsequente, meisterlich eingefädelte) filmische Grenzerfahrung schaut, um zu erleben, was formal alles möglich ist. Inhaltlichem Voyeurismus gibt Noé derweil (berechtigt) keine Befriedigung, da der Film insgesamt dafür zu konzeptuell, zu lästig, zu abstoßend ist, um pervertiert-verherrlichend zu wirken. „Irréversible“ will, wenn überhaupt, intellektuelle Befriedigung verschaffen, indem er dazu einlädt, über die moralische Leere von Rache nachzudenken, über filmische Dramaturgie und die Zerbrechlichkeit des Daseins. Wohlgemerkt Themen, die der Film mit seinen bewusst schmal skizzierten Figuren und seinen ungeschliffenen, improvisierten Dialogen insbesondere durch seine Struktur nahelegt. Daher drängt sich die Frage auf, ob „Irréversible“ in der „richtigen“ Reihenfolge überhaupt funktionieren kann. Verkommt der Film so nicht zu einem reinen Selbstzweck-Schockfilm, der ein grausiges, in viel zu vielen Filmen viel zu leichtfertig behandeltes Thema in sein Zentrum stellt, ohne dass daraus ein künstlerischer Mehrwert gezogen wird? Noé geht dieser Frage nun, 18 Jahre nach der Premiere von „Irréversible“, im „Straight Cut“ nach – einer neuen Fassung seines kunstvollen Skandalfilms. Ursprünglich als Bonusmaterial für die restaurierte Blu-ray-Neuauflage gedacht, befand Noé, dass der nun normal ablaufende „Irréversible“ eigenständig und sehenswert genug sei, um ihn als separates Werk zu veröffentlichen.
„Es drängt sich die Frage auf, ob „Irréversible“ in der „richtigen“ Reihenfolge überhaupt funktionieren kann. Verkommt der Film so nicht zu einem reinen Selbstzweck-Schockfilm, der ein grausiges, in viel zu vielen Filmen viel zu leichtfertig behandeltes Thema in sein Zentrum stellt, ohne dass daraus ein künstlerischer Mehrwert gezogen wird?“
Richtig herum ist falsch herum
Eins vorweg: Auch wenn „Irréversible: Straight Cut“ unter anderem in den französischen Kinos lief und zunächst auch für eine Auswertung in den deutschen Kinos angedacht war (bis sie wegen der Corona-Maßnahmen vertagt wurde), so bleibt diese Fassung ein bloßes Extra. Der (deutlich) bessere, aussagekräftigere Film bleibt das Original, der „Straight Cut“ ist eine reine Spielerei für Noé-Fans und cinephile Menschen, die neugierig sind, was passiert, wenn man einen Film komplett gegen seinen erzählerischen Strich bürstet. Zwar wird „ Irréversible: Straight Cut“ aufgrund des nihilistischen Auftakts der Originalfassung, der nun konsequenterweise als Schlusspunkt dient, nicht auf einmal mit wehenden Fahnen zum Racheloblied. Jedoch ist diese Version des Films bloß noch eine halbarschige Dekonstruktion des Rape-and-Revenge-Kinos: Durch die nunmehr handelsübliche Abfolge von Aktion und Reaktion werden die Motive der Rachetat klar (für manche womöglich vollauf nachvollziehbar). Dadurch gerät allein die fatale Umsetzung in den Fokus und dient als bitterer Nachgeschmack, wo „Irréversible“ in der regulären, verkehrten Variante das Ganze in Frage stellt.
Erschwerend kommt hinzu, dass die von Bellucci mit Intensität gespielte Figur Alex im „ Irréversible: Straight Cut“ massiv an Gewichtung verliert. Noés „Irréversible“ von 2002 beginnt auf inszenatorischer wie narrativ-dramaturgischer Ebene desorientierend, sodass die Form und die viszerale Wirkung des Zusammenspiels aus Form und Brutalität zunächst die „Hauptfiguren“ des Films sind. Ab der Vergewaltigung gerät Alex in den Fokus des Films, sodass der Originalfilm mit dem Davor endet und als Echo von „ Irreversibel“ das übrigbleibt, was die Täter von Sexual-Gewaltdelikten mit ihrem Handeln zerstören. In „Irréversible: Straight Cut“ verschwindet Alex hingegen nach dem Angriff aus dem Film – und durch die verständlichere Erzählform ist die anschließende Suche nach Rache kein derart desorientierender, überwältigender Angriff auf die Sinne wie noch der „ Irréversible“-Auftakt. Zwar werden Musik, Lichtsetzung und Kameraführung nach dem Angriff auf Alex ungehaltener sowie unangenehmer, aber durch die stringente Erzählweise lässt sich den Figuren einfacher folgen. So mutiert „ Irréversible: Straight Cut“ zu einem Film, in dem eine Frau narrativ ausscheidet, damit ihr Lover und ihr Ex-Freund die Geschichte und Bedeutung des Stoffes übernehmen.
Durch die chronologische Erzählweise kristallisiert sich vornehmlich Pierre als Alex liebender, achtender Typ heraus, den Dupontel als eine Mischung aus schüchtern, neckisch-redselig und nicht durchsetzungsfähig spielt, weshalb er den aufgebrachten Marcus nicht genug zügeln kann – mit für ihn selbst schwerwiegenden Folgen. Und auch wenn die Geschichte eines Mannes, der sich in die Hölle der Gewalt mitschleifen lässt, potenziell erzählenswert ist (und sich Noés inszenatorischen Sensibilitäten geradezu anbiedert), ist sie bei „Irréversible: Straight Cut“ (aus produktionstechnisch selbsterklärenden Gründen) bloß ein Nachgedanke, sodass Pierres Reise ins Elend nur wenig emotionale Wirkkraft aufweist. Stärker bleibt da der ungute Nachgeschmack, dass diese „Verdient der auf Vernunft pochende und letztlich austickende Mitläufer unser Mitgefühl?“-Fragestellung auf dem Rücken einer ausführlich eingefangenen Vergewaltigung entworfen wird – womit diese zentrale Szene aus „Irréversible“ in „Irréversible: Straight Cut“ bloß noch exzessiven Schock-um-zu-schocken-Selbstzweck darstellt. Denn immerhin ließe sich Pierres Tragik in einem auf diese Figur hin entwickelten Film auch anders, zurückhaltender in Gang setzen.
„Und auch wenn die Geschichte eines Mannes, der sich in die Hölle der Gewalt mitschleifen lässt, potenziell erzählenswert ist, ist sie bei „Irréversible: Straight Cut“ bloß ein Nachgedanke, sodass Pierres Reise ins Elend nur wenig emotionale Wirkkraft aufweist.“
Halbherzige Überarbeitung
Noé bezeichnet den „Straight Cut“ in einem Pressekommentar als „klarer und ebenso düsterer“ als das Original, sowie als „besser verständlich“ und „fatalistischer“. Nicht nur, dass wir dem widersprechen würden, so flunkert Noé sein Publikum (sehr offensichtlich) an: „Kein Stück Dialog wurde gekürzt, noch irgendwelche Szenen und Ereignisse herausgeschnitten“, behauptet Noé, obwohl „Irréversible: Straight Cut“ sieben Minuten kürzer ist – und es ist nicht etwa so, als würden einfach ausreichend Passagen der neuen Fassung im Zeitraffer verlaufen. Mehr noch: Es lässt sich argumentieren, dass Noé noch immer nicht genug verändert und gekürzt hat, wenn er schon meint, „Irréversible“ umgekehrt erzählen zu müssen. Denn die wirbelnden Szenenübergänge (vergleichbar damit, dass während ihnen das Gezeigte vom Strudel der Zeit erfasst und wieder ausgekotzt wird) sind in „Irréversible: Straight Cut“ nunmehr konzeptlos und aufgesetzt. Da hätte es eine ausführlichere Überarbeitung des Films gebraucht, um wirklich einen neuen, für sich stehenden Film zu erschaffen. So dagegen ist „Irréversible: Straight Cut“ einzig und allein eine wenig lehrreiche Bonuslektion für alle, die nach dem schockierenderen, künstlerisch vollkommeneren „Irréversible“ unbedingt mehr haben wollen.
Fazit: Entgegen Gaspar Noés Aussagen ist „Irréversible: Straight Cut“ kein eigenständiger Film, sondern eine reine Fingerübung, die allein als Komplementärwerk zum Original ihren Reiz hat. Da die Blu-ray-Veröffentlichung eine restaurierte Version des Originals umfasst sowie ein 40-minütiges, retrospektives Making-of-Special, ist sie dennoch zu empfehlen.
„Irréversible: Straight Cut“ ist ab dem 10. Dezember mit der neu restaurierten Fassung von „Irréversible“ auf DVD und Blu-ray erhältlich.