Kindeswohl

In dem Gerichts- und Ehedrama KINDESWOHL steckt Emma Thompson in der Rolle einer abgebrühten Richterin tief in der Krise, als sie über das Schicksal eines schwer kranken Jungen entscheiden muss. Die Story nimmt allerdings derart skurrile Wendungen, dass nicht ganz klar ist, ob das nun gut, oder schlecht ist. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Fiona Maye (Emma Thompson) ist eine erfahrene Familienrichterin in London. Ausgerechnet in einer Phase, in der ihre Ehe mit Jack (Stanley Tucci) in einer tiefen Krise steckt, wird ihr ein eiliger Fall übertragen, bei dem es um Leben und Tod geht: Der 17-jährige Adam (Fionn Whitehead) hat Leukämie, doch als Zeugen Jehovas lehnen er und seine Eltern die lebensrettende Bluttransfusion ab. Fiona muss entscheiden, ob das Krankenhaus den Minderjährigen gegen seinen Willen und den seiner Eltern behandeln darf. Die Auseinandersetzung mit dem intelligenten Jungen führt Fiona zu einer Entscheidung, die auch ihr eigenes Leben verändern wird.
Kritik
Ian McEwans hierzulande unter dem Titel „Kindeswohl“ erschienener Roman heißt im Original „The Children Act“. Zurück geht das auf eine gesetzliche Regelung Großbritanniens, in der es seit 1989 darum geht, das Wohl eines Kindes zu schützen und seine medizinischen Bedürfnisse über jene der ihnen anvertrauten Erwachsenen zu stellen. Im Zweifel bedeutet das also, dass sich ein Gericht darüber hinwegsetzen kann, was sich Eltern oder Pflegeeltern für ihr Kind vorstellen, sofern es seinem Wohlbefinden dient. In der Verfilmung von Richard Eyre („Tagebuch eines Skandals“) geht es auch um genau dieses Thema; zumindest zum Teil. Ganz wie in der Buchvorlage handelt nämlich nur der erste Part der Geschichte von genau solch einem Fall, als zwei streng gläubige Zeugen Jehovas ihrem Jungen eine lebensnotwendige Bluttransfusion verweigern wollen. Alles was danach passiert, hat nur noch marginal mit dem entscheidenden Gerichtsurteil zu tun. In Wirklichkeit ist es nämlich gar nicht der Gewissenskonflikt an sich, mit dem sich die im Mittelpunkt stehende Richterin Fiona Maye auseinander setzen muss. Vor allem die Folgen ihrer Entscheidung spielen in „Kindeswohl“ eine zentrale Rolle. Und das nicht nur für sie, sondern vor allem für den Jungen, in dessen Sinne sie entscheiden soll. Das wird für Nicht-Kenner des Stoffes definitiv überraschend sein und da Regisseur Eyre in der zweiten Hälfte auch noch stark von seiner zuvor so nüchternen und bodenständigen Inszenierung abkommt, wirkt sein Film obendrein wie zwei verschiedene. Das ist definitiv gewöhnungsbedürftig.
Nach Arbeiten mit Cate Blanchett, Judi Dench, und Kate Winslet reiht sich Emma Thompson („Saving Mr. Banks“) als nächste überragende Charakterdarstellerin in die Liste der Namen ein, mit der Richard Eyre in seiner langen Karriere bereits zusammengearbeitet hat. Das geschah auf eigenen Wunsch des Regisseurs, der zu Protokoll gibt, dass der Film ohne ihr Mitwirken nicht zustande gekommen wäre. Diese Entscheidung erweist sich in „Kindeswohl“ als Glücksgriff, denn Thompson gelingt es hervorragend, die zwei widersprüchlichen Seiten ihrer gleichermaßen zerbrechlichen Seite im Privaten und der unnahbar toughen vor Gericht zu kombinieren und ihren Charakter so zu einem runden zu machen. Stanley Tucci („Spotlight“) als von seiner Ehe enttäuschter, seine Gattin aber immer noch über alles liebender Jack steht seiner Kollegin in nichts nach. Im Gegenteil: In den wenigen Szenen seines Auftritts erhält er die ebenfalls komplexe Aufgabe, seine Figur nicht automatisch zu einem Arschloch zu machen. Als sich herauskristallisiert, dass er eine Affäre mit einer Studentin hat, rührt daher kein bloßes Betrugswillen, an seiner seine Frau zweifelsohne respektierenden Ehefrau, sondern auch Verzweiflung darüber, dass ihre Ehe über den Fionas schwierigen Job zu zerbrechen droht. Das macht ihn auf eine verrückte Art und Weise – und auch dank des behutsamen Spiels Stanley Tuccis – bemerkenswert sympathisch.
Dass die Eheprobleme der Mayes einen recht großen Raum in „Kindeswohl“ einnehmen, führt einen mit der Zeit zu der Erkenntnis, dass es im Film vorwiegend darum geht, zu erläutern, dass auch Richter nur Menschen sind. Jede Figur, egal welchen Standes oder welcher Klientel, hat hier die Möglichkeit, ihr Innerstes zu offenbaren. Das bedeutet aber auch, dass diejenigen enttäuscht sein dürften, die sich von dem Drama einen klassischen Gerichtsfilm erhofft haben, was ja im Anbetracht der Synopsis durchaus nahe liegt. Die Frage, ob sich Fiona nun für oder gegen die Bluttransfusion aussprechen soll, beantwortet Ian McEwan binnen weniger Szenen und daran hält sich auch Regisseur Richard Eyre. Sowohl die Staatsanwaltschaft, als auch die Anwälte von Adams Eltern tauschen lediglich kurze Standpunkte aus, um die Richterin zu überzeugen. Nach einem Besuch bei Adam im Krankenhaus fällt ihr Urteil bereits und anschließend entfalten sich all die Auswirkungen, die dieses Urteil mit sich bringt. Dadurch drängt „Kindeswohl“ mit zunehmender Dauer in eine immer weniger einschätzbare Richtung, streift gar Thrillergefilde und rückt verstärkt die aussichtsreiche Beziehung zwischen Fiona und Adam in der Fokus, der sich von der resoluten Richterin angezogen fühlt. Wie das Ganze ausgeht, sei an dieser Stelle natürlich nicht verraten.
Wenn Adam die Richterin später mehrmals unangekündigt besucht und ihr folgt, inszeniert Richard Eyre auf unberechenbare Weise. Mal lauert er ihr in bester Stalker-Manier in einer düsteren Unterführung auf, ein anderes Mal küsst er sich unvermittelt auf den Mund und schreibt ihr schwelgerische Gedichte. Was in dem Kopf des jungen Mannes vorgeht, legt Richard Eyre erst spät offen und spielt dadurch auch immer wieder galant mit den Erwartungen des Publikums. Und den eigentlichen Plot rund um das Urteil hat er zu dem Zeitpunkt ohnehin schon längst – im wahrsten Sinne des Wortes – zu den Akten gelegt. Das ist spannend und unberechenbar; ein seltenes Prädikat, dass sich Filmen heutzutage noch andichten lässt. Doch auch wenn beide Teile von „Kindeswohl“ jeweils für sich überzeugen, gelingt Richard Eyre das Zusammenführen nur bedingt. Lediglich der Subplot rund um Fionas zerrüttete Ehe zieht sich gleichmäßig durch den gesamten Film. In der ersten Hälfte setzt Eyre auf die kühl-analytische Inszenierung des Falles, wird im weiteren Verlauf allerdings immer gefühliger und im Finale schließlich sogar gefühlsduseliger, was dem Film im Gesamten nicht gut tut. Es ist vorwiegend den starken Darstellern, zu denen auch der aus „Dunkirk“ bekannte Newcomer Fionn Whitehead gehört, zu verdanken, dass „Kindeswohl“ dadurch nicht völlig auseinander fällt.
Fazit: „Kindeswohl“ beginnt als klassischer Gerichtsfilm und rückt im weiteren Verlauf immer mehr das Innenleben seiner Protagonistin in den Fokus. Durch die zweigespaltene Inszenierung als mal kühler Gerichtsfilm und mal hochemotionales Charakterdrama bleibt Richard Eyres Werk allerdings weit hinter seinen Möglichkeiten zurück, obwohl sich Emma Thompson und Stanley Tucci alle Mühe geben, „Kindeswohl“ mit brillanten Darstellungen zu veredeln.
„Kindeswohl“ ist ab dem 30. August in den deutschen Kinos zu sehen.