Kinds of Kindness
Nur ein halbes Jahr nach „Poor Things“ kommt mit der Kurzgeschichtensammlung KINDS OF KINDNESS der nächste Film von Yorgos Lanthimos in die Kinos. Seine drei Episoden über Macht und Abhängigkeit sind genauso bitterböse, wie man es von dem griechischen Regisseur gewohnt ist – und vielleicht sogar noch einen Tick krasser als sonst.
Darum geht’s
„Kinds of Kindness“ erzählt drei Geschichten über Abhängigkeit in zwischenmenschlichen Beziehungen. In Episode eins geht es um Robert (Jesse Plemons), dessen Tagesablauf sich voll und ganz an den Wünschen und Forderungen seines Bosses Raymond (Willem Dafoe) orientiert. Als er zum ersten Mal gegen ihn aufbegehrt, muss er sich jedoch mit der Frage auseinandersetzen, wie viel er ohne seinen Meister eigentlich noch wert ist… In Episode zwei steht das Verschwinden von Liz (Emma Stone) im Fokus, die nach langer Abwesenheit wieder vor der Tür steht. Zunächst ist die Freude groß, doch ihr Ehemann beginnt immer größere Zweifel daran zu hegen, es hier tatsächlich mit seiner Frau zu tun zu haben… Episode drei dreht sich um Andrew (Jesse Plemons) und Emily (Emma Stone), die im Auftrag einer sektenähnlichen Gruppierung durch das amerikanische Hinterland reisen, um ein Medium zu finden, das Tote wieder zum Leben erweckt. Doch als Emily gegen ihren Willen Sex mit ihrem Ex-Freund hat, droht sie, aus der Gruppe ausgeschlossen zu werden…
Kritik
Aus dem aktuellen Filmgeschehen ist Yorgos Lanthimos kaum mehr wegzudenken. Der seine Wurzeln in der Greek New Wave habende Regisseur drehte nach mehreren griechischsprachigen Arbeiten, darunter „Dogtooth“ und „Alpen“, 2015 erstmals auf Englisch. „The Lobster“ war zwar kein Hit, brachte ihn aber, sicherlich auch dank einer hochklassigen Besetzung um Collin Farrell und Rachel Weisz sowie überwältigender Kritiken, aufs Tableau größerer Hollywoodstudios. Seinen finalen Durchbruch feierte er schließlich mit der mehrfach oscarnominierten und -ausgezeichneten Historiengroteske „The Favourite“, auf die er fünf Jahre später die ebenfalls zahlreich mit Awards ausgezeichnete Romanverfilmung „Poor Things“ folgen ließ. Und schon während der Weltpremiere in Venedig im September 2023 war Lanthimos‘ nächstes Projekt fertig. Erneut mit Emma Stone und Willem Dafoe in zwei der Hauptrollen. Zwischen der im März abgehaltenen Oscarverleihung, auf der Stone den Preis als „Beste Hauptdarstellerin“ entgegennahm, und der Premiere von „Kinds of Kindness“ auf dem Filmfestival von Cannes Anfang Mai vergingen gerade einmal zwei Monate – und Lanthimos‘ nächster Film „Bugonia“ steht für 2025 auch schon fest. Was für ein Output!

Nach „The Favourite“ und „Poor Things“ ist „Kinds of Kindness“ bereits Emma Stones dritte Zusammenarbeit mit Yorgos Lanthimos.
Für „Kinds of Kindness“ ging Lanthimos einen, für Hollywoodverhältnisse, unkonventionellen Weg. Sein in kein Genre so recht passender Film ist eine Aneinanderreihung von drei unabhängig voneinander stattfindenden Episoden. Die Besetzung bleibt – ähnlich Anthologieserien wie etwa „American Horror Story“ – identisch, Emma Stone („La La Land“), Willem Dafoe („The Northman“) und Jesse Plemons („Killers of the Flower Moon“) schlüpfen in drei völlig unterschiedliche Rollen. Die Handlungen der einzelnen Kurzfilme besitzen indes einen thematischen Überbau. Wie es der Titel schon andeutet, geht es – zumindest im weitesten Sinne – um obskure Auswüchse von (Nächsten-)Liebe. Gleichwohl versucht das Drehbuchautorenduo aus Yorgos Lanthimos und Efthimis Filippou gar nicht erst, emotionale Ankerpunkte zu schaffen. Wie schon Lanthimos‘ bisherige Filme ist „Kinds of Kindness“ mehr denn je eine (diesmal dreifache) Versuchsanordnung, die zwischenmenschliche Ausnahmesituationen und das damit einhergehende Sozialverhalten menschlicher Individuen unter dem Brennglas verfolgt. Und wie man es für Lanthimos‘ Co-Schreiber Filippou gewohnt ist – beide schrieben bereits zusammen die Skripte zu „Dogtooth“ und „Alpen“ – stehen auch diesmal größtmöglich abgedrehte Szenarien im Fokus, von denen man nie ahnt, wie sie wohl am Ende ausgehen werden.
„Die drei Episoden eint die Fragestellung, wie sehr wir als Menschen Gemeinschaft brauchen, um glücklich zu sein. Umso zynischer wiegt da am Ende die Erkenntnis, dass im Grunde niemand wirklich glücklich sein kann, egal ob allein oder mit anderen.“
Wie das bei Kurzfilmsammlungen zumeist so ist, unterscheidet sich auch die Qualität der einzelnen Episoden in „Kinds of Kindness“. Allerdings längst nicht so signifikant, dass sich klar eine beste und klar eine schwächste ausmachen ließe. Stattdessen halten „The Death of R.M.F.“, „R.M.F. is Flying“ und „R.M.F. Eats a Sandwich“ allesamt ein hohes Grundniveau. Der den Episoden ihren Titel gebende R.M.F. ist eine Nebenfigur, die das Geschehen nur marginal beeinflusst und auf dessen bisweilen banalem Handeln (in der dritten Episode tut er eben genau das, was der Titel verspricht: ein Sandwich essen) längst nicht der Fokus liegt. Den teilen sich die drei Hauptdarsteller:innen, die in „Kinds of Kindness“ in verschiedene Arten von Abhängigkeitsverhältnissen schlüpfen. Passend dazu dröhnt zu Beginn laut „Sweet Dreams“ von Eurythmics durch die Lautsprecherboxen. In Film eins ist Jesse Plemons‘ Figur dem beunruhigend souverän auftretenden Willem Dafoe hörig, in Film zwei ist das Leben von Emma Stone weitestgehend davon abhängig, wie ihr Film-Ehemann (wieder Plemons) mit ihr umgeht und in Film Nummer drei unterwerfen sich Stone und Plemons den obskuren Regeln einer sektenähnlichen Gemeinschaft. All diese Episoden eint – neben ihrem tiefschwarzen Humor und den vereinzelten What the Fuck!?-Momenten – die Fragestellung, wie sehr wir als Menschen Gemeinschaft brauchen, um glücklich zu sein. Umso zynischer wiegt da am Ende die Erkenntnis, dass im Grunde niemand wirklich glücklich sein kann, egal ob allein oder mit anderen.

Jesse Plemons besticht in „Kinds of Kindness“ nicht nur durch sein großartiges Spiel, sondern auch durch seine exzentrische Gaderobe.
Zynismus, Sarkasmus, Arroganz, Selbstsucht – in „Kinds of Kindness“ lässt der inszenatorisch diesmal weitaus weniger verspielt als sonst auftretende Yorgos Lanthimos einmal mehr kein gutes Haar an der Gesellschaft. Trotzdem – oder gerade deswegen – ist sein Film auch immer wieder urkomisch. Und zwar nicht nur aufgrund der skurrilen Outfits von Jesse Plemons! Vor allem aber aus einer „Das macht der doch jetzt nicht wirklich“-Mutmaßung heraus. Wenn Lanthimos gen Ende von Episode zwei plötzlich die gesamte Handlung noch einmal mit Hunden nachstellt, Emma Stone im Anschluss an Film Nummer drei eine exzentrische Tanzeinlage einlegt oder sie mit einer unnötig gewalttätigen Aktion gegen einen Hund vermutlich den gesamten Hass der Tierstreichlerecke auf sich ziehen wird, meint man, längst verstanden zu haben, mit welch süffisantem Grinsen Lanthimos sein Publikum immer wieder aus der Reserve lockt. Und es funktioniert! Dabei ist „Kinds of Kindness“ keiner dieser Filme, die bemüht provozieren wollen oder nach Memetauglichkeit lechzen. Auch wenn insbesondere die mittlere Episode zu diesem Gedankengang einladen könnte, passiert die Tatsache, dass sich hier am Ende eine Person brachial verstümmelt, mit solch einer Gleichgültigkeit, als wäre es das Normalste der Welt. Yorgos Lanthimos dreht einfach frei und lässt auch sein Ensemble dafür dem Affen mächtig Zucker geben.
„Zynismus, Sarkasmus, Arroganz, Selbstsucht – in ‚Kinds of Kindness‘ lässt Yorgos Lanthimos einmal mehr kein gutes Haar an der Gesellschaft.“
Das Dreigestirn aus Stone, Plemons und Dafoe hatte ganz offensichtlich einen Heidenspaß, sich durch die verschiedenen Filme zu spielen. Dabei fällt auf, dass sich ihre Art von Duktus und Gestik nur minimal verändert. „Kinds of Kindness“ ist ohnehin ein Film der ganz großen Gesten, da passt es auch, dass die Darsteller:innen immer wieder nah am Overacting vorbeischrammen. Dennoch ist die schauspielerische Bandbreite des Casts beeindruckend, die Präsenz der Akteure und Aktricen zu jedem Zeitpunkt vereinnahmend und insbesondere im Falle von Plemons fast schon hypnotisch. Vor allem in Episode eins darf er sich einmal an der gesamten emotionalen Bandbreite abarbeiten, wenn sein Charakter sich mit aller Kraft aus dem krankhaften Abhängigkeitsverhältnis seines Bosses herauskämpft, nur um kurze Zeit später festzustellen, dass er ohne diesen mindestens genauso mies dran ist. Es ist der einzige Film, in dem man Jemandem mal über einen längeren Zeitraum nicht nur fasziniert zuschaut, sondern auch irgendwie die Daumen drückt. Ansonsten ist „Kinds of Kindness“ vor allem ein Kuriositätenkabinett, das Themen wie Kannibalismus oder gemeinsame Pornoguckabende mit genau der gleichen Selbstverständlichkeit anpackt wie die Suche nach einem Medium für die Erweckung von Toten. Das muss man halt gesehen haben, um es zu glauben.
Fazit: Yorgos Lanthimos dreht frei! „Kinds of Kindness“ vereint drei bitterböse Kurzfilme, einer zynischer und grotesker als der andere!
„Kinds of Kindness“ ist ab dem 4. Juli 2024 in den deutschen Kinos zu sehen.
