Ma Rainey’s Black Bottom

Mit MA RAINEY’S BLACK BOTTOM veröffentlicht Netflix Chadwick Bosemans letzten Film. Ob das von Denzel Washington produzierte Musikerdrama ein denkwürdiger Abschied von dem Schauspielstar ist, verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Chicago im Jahr 1927. Die populäre Musikerin Ma Rainey (Viola Davis) soll ein neues Album aufnehmen, trifft aber erst mit reichlich Verspätung ein. Ihre Band vertreibt sich die Wartezeit mit gewitzten Anekdoten, verletzenden Vorwürfen und aufwühlenden Beichten – sowie mit Kabbeleien darüber, wie der Song „Ma Rainey’s Black Bottom“ eingespielt werden sollte. Der hitzköpfige Trompeter Levee (Chadwick Boseman), bisher nur jemand aus der zweiten Reihe, sieht seine Stunde gekommen, die Blues-Musik bereit für den tanzwütigen Lebensstil der Großstadt zu machen – und sich gegenüber dem Plattenlabel als jemand zu behaupten, der seine eigene Band anführen kann. Als die Produzenten Sturdyvant (Jonny Coyne) und Irvin (Jeremy Shamos) versuchen, die Kontrolle zu übernehmen, nehmen die Anspannungen im Studio zu …
Kritik
Es ist schwer, „Ma Rainey’s Black Bottom“ nur wenige Monate nach dem Tod von Chadwick Boseman zu gucken, ohne sich unweigerlich auf seine Leistung zu konzentrieren. Der „Get on Up“- und „Black Panther“-Star ist am 28. August 2020 im Alter von nur 43 Jahren gestorben – wie seine Familie bekanntgab, wurde bei ihm bereits 2016 Darmkrebs im Stadium III diagnostiziert, was er allerdings nahezu geheimhielt. Der Verlust dieses charismatischen und talentierten Schauspielers, der nicht zuletzt aufgrund seiner Präsenz in den Marvel-Filmen für ein Millionenpublikum zur Ikone wurde, traf schwer. Und schon jetzt heißt es erneut Abschied nehmen, denn in „Ma Rainey’s Black Bottom“ hat Boseman seine letzte Rolle gespielt.
Wenigstens können sich Fans des Mimen auf einer starken Note von Boseman verabschieden: „Ma Rainey’s Black Bottom“ fügt der Filmografie Bosemans einen weiteren Film hinzu, in dem er die frühere wie heutige Lebenswirklichkeit Schwarzer mittels einer facettenreichen, bewegenden Schauspielleistung beleuchtet. Nachdem Boseman unter anderem den bahnbrechenden Baseballspieler Jackie Robinson (in „42“), den einflussreichen Rechtsanwalt und späteren Richter Thurgood Marshall (in „Marshall“) sowie Musik-Superstar James Brown (in „Get on Up“) spielte, gibt Boseman in „Ma Rainey’s Black Bottom“ einen Background-Musiker, der von mehr träumt. Doch Levee hat neben seiner eigenen Impulsivität auch Unmengen an Vorurteilen zu bewältigen, sowie die Folgen eines von Tragödien gebeutelten Lebens zu tragen – und Boseman erweckt diesen komplizierten, stürmischen Mann mit unbändigem Charisma und markerschütternden Tiefen zum Leben.
„‚Ma Rainey’s Black Bottom‘ fügt der Filmografie Bosemans einen weiteren Film hinzu, in dem er die frühere wie heutige Lebenswirklichkeit Schwarzer mittels einer facettenreichen, bewegenden Schauspielleistung beleuchtet.“
Um vom Boseman-Faktor abzurücken und auf den Film als Ganzes einzugehen: Die Ursprünge von „Ma Rainey’s Black Bottom“ sind eng mit Denzel Washingtons preisgekrönter Regiearbeit „Fences“ verbunden. Bereits im Vorfeld der „Fences“-Dreharbeiten wurde bekannt, dass Washington zahlreiche weitere Bühnenstücke des „Fences“-Autoren August Wilson ins Medium Film übertragen möchte. Eines der Stücke, auf die Washington sein Auge geworfen hatte, war „Ma Rainey’s Black Bottom“. Ursprünglich als HBO-Produktion geplant, verlagerte Washington (der hier anders als bei „Fences“ alleinig als Produzent agiert) seinen Deal letztlich zu Netflix. Und obwohl sich hinter den Kulissen somit manche Parameter veränderten, ist „Ma Rainey’s Black Bottom“ die Handschrift Wilsons genauso anzumerken wie „Fences“. Wie zuvor schon Washington, ist hier Regisseur George C. Wolfe („The Immortal Life of Henrietta Lacks“) nicht daran interessiert, die Bühnenstück-DNA der Vorlage zu verleugnen oder Wilsons unverkennbaren Blick auf die Erfahrungen afro-amerikanischer Personen durch eine dominante eigene Handschrift zu verdrängen. Wie „Fences“ ist auch „Ma Rainey’s Black Bottom“ extrem dialoglastig und lässt soziodemografische sprachliche Eigenheiten, Schnellfeuer-Wortwechsel, gewitzte Redeschwalle und tragische Monologe zu einer poetischen Einheit verschmelzen.
Da „Ma Rainey’s Black Bottom“ einen deutlich kürzeren Handlungszeitraum hat (der Film spielt fast in Echtzeit), muss dieser Film allerdings weniger Langzeit-Charakterwandel schultern als das intensiver plottende Arbeiterschicht-Drama „Fences“. Das hat zur Folge, dass die Monologe in „Ma Rainey’s Black Bottom“ weniger verkrampft wirken – in „Fences“ gibt es doch vereinzelte Momente, in denen Washington, Viola Davis und Mykelti Williamson den naturalistischen Stil des Films verlassen und arg theatral aufspielen müssen, um die Bedeutung des Monologs, das situative Gefühl ihrer Figur und den suggerierten, größeren Charakterwandel zu vermitteln. In „Ma Rainey’s Black Bottom“ sind die Monologe indes zwar durchweg theatralisch angehaucht, jedoch lässt Wolfe dies sehr organisch als Facette der Figuren dastehen: Wolfe zeigt die zentralen Figuren als gleichermaßen eingespielte wie gereizte Truppe von Bühnenhasen, die Musik und Show im Blut haben – und daher bei diesem wichtigen Aufnahmetermin nahtlos von „Let’s entertain!“-Sitcheleien in selbstdarstellerisch getragene Offenlegungen ihres Innersten rutschen.
„Wolfe zeigt die zentralen Figuren als gleichermaßen eingespielte wie gereizte Truppe von Bühnenhasen, die Musik und Show im Blut haben.“
So, wie „Fences“ die Erfahrungen, Ängste und Hoffnungen der schwarzen Arbeiterschicht der 1950er-Jahre verdichtet, präsentiert sich „Ma Rainey’s Black Bottom“ als Kondensat dessen, was in Blues- und Jazz-Musikern der 1920er vorging. Ma Rainey und ihre Musiker sind ein wandelndes Pulverfass der Emotionen – und innerhalb von nur 94 Minuten macht der Film sehr überzeugend deutlich, weshalb. Ma Rainey gilt als Größe ihres Fachs – doch es nagt an ihr, dass ihre Stimme von den Weißen gefeiert wird, nicht jedoch sie. Und in der Band gibt es, trotz eines oberflächlichen Zusammenhalts, tiefe Graben, basierend auf dem Alter der einzelnen Mitglieder, ihrer Heimatstadt (und den damit einhergehenden Erfahrungen mit Rassismus, von halboffenen bis unverhohlen gewalttätig) und dem grundlegenden Selbstverständnis, das von Begleitmusiker über Unterhaltungskünstler bis hin zu „Ich muss meinen Leuten ein Vorbild sein und neue Wege bereiten“ reicht.
Wo Washington in „Fences“ die Emotionen seiner Figuren mehrfach unterstreicht, legt Wolfe (zum Setting passend) größeren Wert auf den Rhythmus: Höhen und Tiefen bei dieser Aufnahmesession, Phasen der Zurückhaltung und der Offensive, werden durch ein dynamisches Spiel des Casts und eine stilvolle Ästhetik unterstrichen. Die geschmackvollen Kostüme sind ausdrucksstark, Kameramann Tobias Schliessler lässt mit seiner unsteten, nie aber hektischen Bildführung gar nicht erst zu, dass dieses Beinahe-Kammerspiel statisch wird, und der Schnitt von Andrew Mondshein hält das Tempo hoch, lässt aber zugleich genug Raum, dass bedeutungsvolle Blicke oder emotional aufgeladene stimmliche Kadenzen nachhallen können. Alles in allem bleibt Wolfes Regieführung zwar weiterhin bühnenhaft, doch sie ist lebendig genug, um der Vitalität der Figuren gerecht zu werden.
„Die geschmackvollen Kostüme sind ausdrucksstark, Kameramann Branford Marsalis lässt mit seiner unsteten, nie aber hektischen Bildführung gar nicht erst zu, dass dieses Beinahe-Kammerspiel statisch wird, und der Schnitt von Andrew Mondshein hält das Tempo hoch.“
Vielleicht ist es auch dieser Tanz zwischen „die Vorlage stets streng im Blick haben“ und „im Sinne der Figuren etwas Schwung beibehalten“, der dazu führt, dass sich Ma Rainey und ihre Band echter anfühlen als die teils sehr zugespitzten Figuren im dessen ungeachtet aufwühlenden „Fences“: Wenn sich Posaunist Cutler (Colman Domingo), Bassist Slow Drag (Michael Potts) Klavierspieler Toledo (Glynn Turman) und Levee zwischen kühler Routine, Lebensfreude, Kummer und Wut bewegen, weil sie aufgrund ihrer Hautfarbe, ihres Berufs und ihres schmalen Geldbeutels turbulente Leben hinter sich haben, wühlt dies auf. Und Viola Davis ist als reale Blues-Legende Ma Rainey einmal mehr eine Wucht: Sie spielt die stolze sowie stoische Diva als Frau mit großem Selbstbewusstsein – aber auch mit untrügerischem Blick auf ihre Lebenssituation. Daher ist ihre Divenhaftigkeit keine Arroganz, sondern eine Mischung aus Selbstschutz und „Ich koste das Wenige aus, was mit vergönnt ist“. Und diese Vielschichtigkeit Ma Raineys vermittelt Davis formidabel.
Fazit: Im Musikerdrama „Ma Rainey’s Black Bottom“ legen die Streits einer Band die Untiefen offen, die Rassismus und Klassenunterschiede entstehen lassen – und Viola Davis sowie Chadwick Boseman liefern mit diesem Stoff preisverdächtige Performances ab.
„Ma Rainey’s Black Bottom“ ist ab dem 18. Dezember 2020 auf Netflix zu sehen.