Loro – Die Verführten

Paolo Sorrentino, der Regisseur des modernen italienischen Filmklassikers „La Grande Bellezza“, widmet sich in LORO – DIE VERFÜHRTEN dem Medienmogul und Politiker Silvio Berlusconi. Ob das sehenswert ist, verraten wir in unserer Kritik.
Der Plot
Italien, Ende des vergangenen Jahrzehnts: Für den kleinen Provinz-Zuhälter Sergio Morra (Riccardo Scamarcio) und seine Helfershelferin Tamara (Euridice Axen) gibt es nur einen Traum. Sie möchten es aus Apulien herausschaffen und den Sprung nach Rom wagen, um es dort Sergios Idol gleichzutun – Silvio Berlusconi (Toni Servillo). Der skrupellose Immobilienverkäufer, Schnulzensänger, Multimilliardär, Medienzar, umjubelte Volkstribun und mächtige Politiker lebt vor, welche Erfolgsgeschichten in Italien möglich sind, wenn man es einfach nur dreist genug versucht. Also heckt Sergio einen Plan aus, wie er in Berlusconis Dunstkreis geraten kann. Auf dem Weg dorthin lernt er unter anderem die mysteriöse Einwanderin Kira (Kasia Smutniak) kennen, die einen direkten Draht zu Berlusconi hat; Sergios Charme allerdings nicht so zügig verfällt, wie es ihm lieb wäre. Aber er hat ja noch seine Dutzenden von Heerscharen an Prostituierten. Währenddessen plant Ex-Minister Santino Recchia (Fabrizio Bentivoglio), Berlusconi als Anführer der Mitte-Rechts-Koalition abzulösen. Seine intriganten Versuche werden allerdings durch Berlusconis Getreuen ausgebremst. Denn die unentwegte Frohnatur und Grinsebacke Berlusconi übt auf ihr enges Umfeld eine immense Faszination aus, die für große Treue sorgt. Ein Begriff, der Berlusconi selbst fremd ist, weshalb ausgerechnet seine Gattin Veronica (Elena Sofia Ricci) derzeit gar nicht gut auf ihn zu sprechen ist …
Kritik
Es hat etwas gedauert, aber nun ist Paolo Sorrentino zurück in heimischen Gefilden: Nach dem unter anderem mit dem Oscar preisgekrönten Lebemann-Drama „La Grande Bellezza – Die große Schönheit“ inszenierte der italienische Regisseur zunächst ein Segment des Episodenfilms „Rio, Eu Te Amo“, ehe er die englischsprachige Dramödie „Ewige Jugend“ und anschließend die Serie „The Young Pope“ inszenierte. Mit „Loro – Die Verführten“ verantwortet Sorrentino aber endlich seinen ersten italienischsprachigen Kinofilm seit dem Jahr 2013. Obwohl: So ganz stimmt das nicht. Streng genommen handelt es sich um seine ersten italienischsprachigen Filme seit 2013. Denn in seinem Heimatland veröffentlichte Sorrentino „Loro“ in zwei unabhängigen Akten mit rund 100 beziehungsweise 105 Minuten Laufzeit – frei nach Quentin Tarantinos „Kill Bill“ und Lars von Triers „Nymp()maniac“. International wird „Loro – Die Verführten“ dagegen als ein einzelner Film ausgewertet, basierend auf der US-Schnittfassung, die eingereicht wurde, um dieses Epos für den Fremdsprachen-Oscar zu qualifizieren. Nun etwa 157 Minuten lang, ist „Loro – Die Verführten“ naturgemäß nicht mehr ganz so exzessiv wie als italienischer Kino-Zweiteiler. Dennoch ist Sorrentinos neue Regiearbeit auch in kompakter Form weiterhin ein Film, dessen Form seinem Inhalt gerecht wird: „Loro – Die Verführten“ ist durch und durch eine italienische Antwort auf Martin Scorseses „The Wolf of Wall Street“. So, wie sich Scorsese in seinem Mammutfilm voll und ganz auf das bunte, wilde, gierige Treiben des realen Betrügers Jordan Belfort eingelassen hat, fängt Sorrentino hier die Bunga-Bunga-Version von la dolce vita ein, wie sie Silvio Berlusconi vorgelebt hat. Und wo sich der Gangsterfilm erprobte US-Regisseur in lauten, derben Exzess hineinsteigert, setzt der eher ins Poetische tendierende Sorrentino lieber auf eleganten Exzess.

Riccardo Scamarcio in der Rolle des Provinz-Zuhälters Sergio Morra auf einer von vielen ausschweifenden Partys.
Die eröffnende Partysequenz in „La Grande Bellezza“ war insofern so etwas wie die Vorhut zu „Loro – Die Verführten“: Sorrentino, der gemeinsam mit Umberto Contarello das Drehbuch verantwortete, setzt in seinem Fakt und Fiktion vermischenden Berlusconi-Bombastfilm, genauso wie bei der Dachterrassenparty aus „La Grande Bellezza“, auf eine bildhübsche Art und Weise, zügelloses Abfeiern einzufangen. Das Bild ist gestochen scharf. Die Kamera schwebt sanft, ohne jegliches Ruckeln, durch eine ausgelassene Menschenmasse, die sich dem Alkohol, illegalen Drogen und musikinduzierter Ekstase hingibt. So frenetisch die Darsteller und Komparsen gerade auch feiern mögen, bleibt Cristiano Travagliolis Schnitt besonnen, der Bilderreigen prasselt nicht etwa auf das Publikum ein. Stattdessen nehmen wir an so etwas wie einer Bewegtbild-Diashow teil, können aus einer sicheren Betrachterposition den Rummel begutachten und analysieren. Sorrentino spickt „Loro – Die Verführten“ mit einer Vielzahl solcher Partyszenen, die er allesamt abwechslungsreich gestaltet. Hier gibt es eine weniger kultivierte, proletenhaftere Reminiszenz an den „La Grande Bellezza“-Auftakt, inklusive sattem Nachtschwarz und ebenso kräftigen, güldenen Lichtquellen. Dort erfüllt Italiens Echo zur „The Wolf of Wall Street“-Hauspartyszene, in der in Zeitlupe Quaaludes geschluckt werden, die Leinwand und ersetzt den gröhlenden Rausch der Wall-Street-Raffgeier mit einem innig verschlungenen Ecstasy-High. Und so weiter…
Eintönig wird der Partyreigen in „Loro – Die Verführten“ nicht, selbst wenn Sorrentinos eleganter Regiestil sie alle deutlich prägt. Paradoxerweise ist „Loro – Die Verführten“ den fein säuberlich inszenierten Feiersequenzen zum Trotz ein völlig unübersichtlicher Film: Sorrentino baut zwar eine Distanz zwischen seinem Publikum und seinen hedonistischen, vergnügungssüchtigen Figuren auf, gleichwohl lässt er die Nebenwirkungen des Drogen- und Machtrausches an anderer Stelle ins Filmmaterial siffen. Nämlich auf struktureller Ebene: Dieses Exzessdrama setzt sich über grundlegende Drehbuchgesetze hinweg und lässt detailliert eingeführte Figuren und als bedeutsam angedeutete Handlungsfäden im frivolen Treiben untergehen. Kira, die geheimnisvolle Schöne, die es von Nichts nach (fast) ganz Oben geschafft hat und der Sergio verfallen ist? Nach ein paar Dialogszenen verliert der Film sie aus dem Fokus, nur um ihren Storyfaden irgendwann im letzten Viertel am Rande einer weiteren Filmparty abzuschließen. Sergio, dem sich (mindestens) das erste Viertel des Films verschreibt? Kaum stehen seine Kontakte zu Silvio Berlusconi, reißt dieser das filmische Rampenlicht an sich – und wenn ein Berlusconi erst einmal seinen Fuß in der Tür hat, zieht er ihn so schnell nicht wieder raus.
Dieses undisziplinierte Erzählen hat durchaus Methode: „Loro – Die Verführten“ ist (wie sogleich zwei Texttafeln zu Beginn suggerieren) kein wirklichkeitsgetreues Biopic über den italienischen Skandalpolitiker, der aller Streitbarkeit zum Trotz von breiten Volksmassen bewundert wird. Es ist auch keine Gesellschaftsstudie, die erklären will, wie so jemand wie Berlusconi an Macht gelangen konnte. „Loro – Die Verführten“ ist sozusagen ein Stimmungsfilm, ein Leinwandexzess, der Impressionen aus Italiens Bunga-Bunga-Kreisen zeichnet. Da gehört es schon hinzu, dass wir in den ersten Minuten, wenn alles noch seinen einen halbwegs geordneten Gang geht, in ruhigen Dialogmomenten Figuren kennenlernen, nur um sie im Rummel aus den Augen zu verlieren und später nur aus der Ferne zu beobachten, was aus ihnen geworden ist. Durch Sorrentinos Mischmasch aus „Die Regieführung imitiert das Lebensgefühl der handelnden Figuren“ und „Wir betrachten alles aus einer sicheren, besonnenen Distanz“ ergibt sich eine komplexe Sicht auf eben diesen Schlag Menschen: Sorrentino glorifiziert diese ungezügelte Libertinage nicht. Den Filmpartys bleibt schlussendlich ein Gefühl der Befriedigung verwehrt. Sorrentino skizziert Sergio als Nutznießer. Er legt mehrmals den Finger in die klaffende Wunde, die das italienische Fernsehen darstellt – dieses würde nämlich selbst den Verantwortlichen des deutschen Nachmittags-Privatfernsehens die Schamesröte ins Gesicht treiben. Und er zeigt Berlusconi als eine absolute Witzfigur – als tumben, dauernd grinsenden Clown, für den nur der Schein existiert.
Und dennoch schafft Sorrentino es, Mr. Bunga Bunga nicht einfach als Trump-Prototypen darzustellen. Anders als die Beton-Föhnwelle aus den Staaten kann Berlusconi wenigstens etwas: Er hat eine geschmeidige Stimme, die er immer dann zur Schau stellt, wenn er sein Umfeld mittels italienischer Schmachtschlager umgarnt. Und so oft Tonio Servillo („Il Divo“) auch mit komödiantischen Folgen ein hohles Honigkuchenpferdgrinsen gen Kamera loslässt, findet er wiederholt Momente, in denen er seinem Berlusconi ehrliche Gefühle abringt. Wenn er sich nach einem Streit freut, seiner Frau durch eine Überraschung eine Freude zu machen, oder wenn er, nachdem ihm mehrere Anvertraute attestieren, er hätte seinen Touch verloren, spontan ein Verkaufstelefonat anleiert, einfach nur um zu schauen, ob er es noch immer drauf hat. Diese minutenlange Szene hat ihren eigenen dramaturgischen Bogen und ist mindestens doppelbödig, da Berlusconi zwar einer Frau das Blaue vom Himmel herunter lügt, es Sorrentino aber zugleich als Moment der Charakterentwicklung und somit als Gewinn inszeniert. Solche Szenen, in denen das oberflächliche Figureninventar im Rahmen eines Redeschwalls Risse in seine ach-so-makellose Oberfläche reißt, bereichern den Bilder- und Musikrausch Sorrentinos ungemein, selbst wenn sie diesen Mammutfilm endgültig als turbulenten Mischmasch aus Drama, Satire und Slice-of-Party-Life-Movie dastehen lassen. Dank der Schnittarbeit Cristiano Travagliolis, der dem Geschehen trotz seines eigenwilligen Erzähllusses einen organischen Rhythmus verleiht, gewinnt „Loro – Die Verführten“ aber eine derart große Sogkraft, dass die tonalen Unebenheiten nicht weiter auffallen. Kaschiert Sorrentino also die Makel seines Skripts? Oder ist es ein filmischer Kniff, der auf Meta-Ebene unterstreicht, was Film-Berlusconi vorführt: Nicht der Inhalt, sondern der Tonfall ist es, auf den die Masse achtet?
So oder so: Das ewige Stop and Go wird nur kurz vor Schluss ermüdend, wenn über Berlusconi, Sergio und die Jugend, die die hedonistischen Alten durchschaut, alles gesagt ist; Sorrentino sich aber noch um ein einfühlsam-dramatisches Ende bemüht. Konzeptuell ist es naheliegend, dem macht- und spaßgierigen Rausch schlussendlich den Boden unter den Füßen wegzuziehen, allerdings hätte es wohl mehr Effekt, dies schnell und harsch umzusetzen. Damit hätte die Einkehr der Wirklichkeit solch einen Punch wie die Partypassagen – so hingegen plätschert „Loro – Die Verführten“ aus, und die Erkenntnis, dass Frivolität allein eben doch nicht gewinnen kann, nimmt eher die Form eines beiläufigen Gedanken an. Da vergeht selbst Servillos Berlusconi das Grinsen.
Fazit: „The Wolf of Wall Street“ in italienisch: „La Grande Bellezza“-Regisseur Paolo Sorrentino erzählt eine halb-fiktive Geschichte des reinen Exzesses, verleiht ihr aber, ganz gegen die zentrale Figur Silvio „Bunga Bunga“ Berlusconi gebürstet, eine würdevolle Galanz.
„Loro – Die Verführten“ ist ab dem 15. November in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.