Lost Girls

Basierend auf einem Sachbuch über einen dramatischen, real stattgefundenen Kriminalfall, erzählt die Netflix-Produktion LOST GIRLS von einer Mutter, die ihre Tochter sucht. Ob der Film überzeugt, verraten wir in unserer Kritik.

Der Plot

Mari Gilbert (Amy Ryan) ist eine schwer beschäftigte Frau: Mit zwei Jobs hält sie sich und ihre Teenie-Töchter gerade so über Wasser. Doch sie beißt sich mit aller Macht durch – einst musste sie ihre Erstgeborene Shannan (Sarah Wisser) an Pflegeeltern abgeben, weil sie sie nicht versorgen konnte. Mari will nicht, dass sich das wiederholt und ihr auch ihre jüngeren Kinder Sherre (Thomasin McKenzie) und Sarra (Oona Laurence) weggenommen werden. Als Shannan eines Tages nicht zu einem fest abgemachten Besuch bei ihrer Familie erscheint, läuten bei Mari die Alarmglocken. Doch weder die Polizei, noch die verschlossene und eng verknüpfte Long-Island-Gemeinde, in der Shannan zuletzt gesehen wurde, nehmen Maris Sorgen ernst …

 

Kritik

True Crime ist nun seit Jahren der heiße Scheiß in der Medienwelt: Das, was Eduard Zimmermann schon 1967 mit „Aktenzeichen XY“ vorgemacht hat, wird aktuell in Schlagzeilen schreibenden HBO-Serien („Der Unglücksbringer: Das Leben und die Tode des Robert Durst“), Netflix-Dokumentarfilmen („Amanda Knox“), ellenlangen Netflix-Dokuserien, Podcasts und Serien über Podcasts platt getreten. Nacherzählungen realer Verbrechen in dokumentarischer Form oder mittels Nachstellungen sind ein Stück popkultureller Zeitgeschichte geworden. Insofern überrascht es, nun auf Netflix ein Drama zu sehen, das von Dokumentarfilmerin Liz Garbus (Produzentin von „What Happened, Miss Simone?“) stammt und auf einem wahren Kriminalfall basiert – aber nicht die True-Crime-Schiene fährt. Stattdessen ist „Lost Girls“ ein klassisches Spielfilmdrama – wenngleich es sich am gleichnamigen Sachbuch orientiert, das von Journalist Robert Kolker stammt.

Als Maris (Amy Ryan) Tochter Shannan spurlos verschwindet, gerät eine ganze Stadt in Aufruhr.

Liz Garbus‘ Spielfilm-Regiedebüt „Lost Girls“ weckt zu gewissem Maße Erinnerungen an Ben Afflecks Langfilm-Regiedebüt „Gone Baby Gone“. Zwar erzählt Afflecks Film eine fiktive Geschichte, die Parallelen zu realen Fällen aufweist, jedoch teilen sich beide Produktionen die Hauptdarstellerin: In „Lost Girls“ spielt, wie schon in „Gone Baby Gone“, Amy Ryan eine alleinerziehende Mutter aus ärmlichen Verhältnissen, die sich auf die Suche nach ihrer verschollenen Tochter begibt. Und beide Filme zeigen auf, wie die Herkunft eines Opfers die öffentliche Wahrnehmung eines Falls verdrehen kann. Die ausdrucksstärksten, relevantesten Szenen in „Lost Girls“ zeigen dann auch Amy Ryan als überarbeitete, verzweifelte, erschöpfte Mutter, die um Fassung ringt, während sie von der Polizei abgewimmelt wird. Man spürt, wie Zorn in ihr aufsteigt, weil man sie aufgrund ihres schmalen Kontos und ihres zerzausten Auftretens als Problemmutter abstempelt und die verschollene Shannan direkt als Drogenopfer und Ausreißerin verurteilt. Garbus lässt solche Szenen trocken ablaufen und fängt sie in einer distanzierten Ästhetik ein, womit sie das Publikum allein mit seinen Erkenntnissen lässt – sie schwächt die Schwere dieser Augenblicke nicht ab, indem sie uns die Moral in mahnendem Kitsch eintrichtert.

Auch abseits dieser Szenen überzeugt Ryan mit einer geradlinigen, aufgewühlten Darbietung, die sich gekonnt in die verwaschene, bedrückende Bildsprache Garbus‘ und ihres Kameramannes Igor Martinovic fügt. Doch so atmosphärisch und reduziert der Film beginnen mag: Stück für Stück gehen die reduzierte Ästhetik und anfangs auch minimalistische Erzählhaltung auseinander. Die Optik und die bewusst dumpfe, eine Ermüdung und Beklommenheit suggerierende, Tonabmischung bleiben – aber aus der verdichteten wird schrittweise eine mäandernde, kleinschrittige Erzählweise. Drehbuchautor Michael Werwie, der in seinem Serienkiller-Biopic „Extremely Wicked, Shockingly Evil And Vile“ auf einen subtilen, aber eindringlichen Schluss hinarbeitete, verzettelt sich in einer Zusammenfassung der Entscheidungen, Fehlurteile und intuitiv gefundener Fährten, die den realen Fall ausgemacht haben, auf dem dieser Film basiert. Ein bisschen Korruption, ein wenig muffelige „Niemand will reden“-Dorfmentalität, ein wenig Charakterdrama und ein bisschen Kritik am faulen Frauenbild vieler Männer – alles Elemente, die solch ein Film gerne anschneiden darf, ja sogar muss. Doch „Lost Girls“ lässt mit fortschreitender Laufzeit den kritischen Scharfsinn missen, mit der der Film begonnen hat, und die Verschränkung dieser Aspekte gerät dürftig.

Mari wendet sich an die Öffentlichkeit…

Fazit: „Lost Girls“ ist ein atmosphärisch beginnendes Drama mit einer aufgewühlten Amy Ryan in der Hauptrolle, das sukzessive zu einer zweidimensionalen, kargen Verfilmung realer Begebenheiten verkommt.

„Lost Girls“ ist ab sofort auf Netflix streambar.

Und was sagst Du dazu?