22 Bahnen
Wenn das tägliche Ziehen von 22 Bahnen im Schwimmbad zum einzigen Moment der Freiheit wird: Das Coming-of-Age-Drama 22 BAHNEN taucht tief in das Leben der jungen Tilda ein, die zwischen der Fürsorge für ihre Schwester, der Alkoholabhängigkeit der Mutter und ihren eigenen Träumen zerrieben wird – und dabei in seinen besten Momenten eine ungeheure Intensität entfaltet, selbst wenn man hie und da Ecken und Kanten vermisst.
Darum geht’s
Die 22-jährige Mathematikstudentin Tilda (Luna Wedler) arbeitet nebenbei an der Supermarktkasse und trägt schon lange eine Verantwortung, die eigentlich nicht die ihre sein sollte: Seit Jahren sorgt sie für ihre zehnjährige Halbschwester Ida (Zoë Baier), da ihre alkoholkranke Mutter Andrea (Laura Tonke) kaum in der Lage ist, sich um ihre Töchter zu kümmern. Für Ida verzichtet Tilda auf ein unbeschwertes Studentenleben und stellt ihre eigenen Bedürfnisse konsequent zurück. Einzig im täglichen Schwimmen, bei dem sie konsequent 22 Bahnen zieht, findet sie Ruhe und einen Moment nur für sich. Zwischen den Schwestern besteht eine tiefe Verbundenheit, doch Tilda steckt in einem Dilemma: Soll sie das Angebot für eine Promotionsstelle in Berlin annehmen und ihren eigenen Weg gehen – oder bei Ida bleiben, die ohne sie verloren wäre?
Kritik
Caroline Wahls Debütroman „22 Bahnen“ wurde zu seiner Veröffentlichung vor zwei Jahren gemischt aufgenommen. Während die einen den Schreibstil und die darin geschilderte Geschichte als authentisch und lebensnah lobten, kritisierten die anderen das Buch für gewisse Oberflächlichkeiten und ein vermeintlich fehlendes Interesse für die Charaktere. Das Besondere an „22 Bahnen“: Die Story über die Mathematikstudentin Tilda, die sich aufgrund der Alkoholkrankheit der Mutter um ihre Halbschwester Ida kümmern muss und darüber ihre eigenes junges Erwachsensein versäumt, ist aus der Ich-Perspektive der Hauptfigur erzählt. Die in dem Roman geschilderten Ereignisse besitzen allerdings keine autobiographischen Züge der Autorin, die zum Zeitpunkt des Schreibens zudem keinerlei Berührungspunkte mit dem Thema Alkoholismus hatte. Doch intensive Recherchen und ein nicht zu leugnendes Einfühlungsvermögen in die Thematik lassen beim Lesen von „22 Bahnen“ trotzdem ebenjenes Authentizitätsgefühl aufkommen, das auch von der wohlwollenden Literaturkritik erkannt wurde. Und auch der große Erfolg des Romans gibt der Autorin Recht, weshalb die Adaption in Filmform von Anfang an nur eine Frage der Zeit schien.
Nun erscheint mit der gleichnamigen Leinwandadaption ein Film in den Kinos, der den Stoff recht nah an der Buchvorlage einfängt. Und das ist in jeder Hinsicht positiv als auch negativ zu verstehen. Denn wenn man „22 Bahnen“ – sofern man denn möchte – eines vorwerfen kann, dann ist es eine gewisse Gefälligkeit. Es ist noch gar nicht lange her, da widmete sich Markus Goller in seiner starbesetzten Tragikomödie „One for the Road“ dem Thema Alkoholismus in der Gegenwart – und das für einen deutschen Mainstreamfilm in bisweilen erstaunlich drastischen Bildern. In „22 Bahnen“ wird die Allgegenwärtigkeit der Sucht anders verpackt. Da genügt häufig nur ein kurzer Kameraschwenk über mit leeren Flaschen vollgepackte Einkaufstüten oder in die chaotische Wohnung, die die Mutter der beiden Mädchen mal wieder nicht aufgeräumt hat, weil sie stattdessen lieber mit Restalkohol im Blut auf der Couch verweilt. Der dramatische Höhepunkt ist eine unbedachte Kombination aus Hochprozentigem und (zu vielen) Beruhigungstabletten; Doch auch diesen für die Töchter so schockierenden Anblick fängt die Regisseurin Mia Maariel Meyer („Treppe aufwärts“) mit fast schon trotziger Ruhe ein. Beschönigen tut sie damit nichts, aber hier und da mangelt es „22 Bahnen“ in gewisser Weise an der Dringlichkeit, die allzu dramatischen Ausmaße des zügellosen Alkoholkonsums aufzuzeigen.
„In ’22 Bahnen‘ wird die Allgegenwärtigkeit der Sucht anders verpackt. Da genügt häufig nur ein kurzer Kameraschwenk über mit leeren Flaschen vollgepackte Einkaufstüten oder in die chaotische Wohnung, die die Mutter der beiden Mädchen mal wieder nicht aufgeräumt hat.“
Für die Schläge in die Magengrube sorgen stattdessen andere Momente. Etwa wenn Ida ihre Mutter im Krankenhaus auf den Kopf zu mit ihrer Sucht konfrontiert – ganz ehrlich, dabei vollkommen unbedarft. Eben genau so, wie es eine Zehnjährige vermutlich machen würde, ohne sich vorher groß Gedanken darüber zu machen, was für eine Wucht ihre Worte haben können. Die einmal mehr großartige Laura Tonke („Feste & Freunde – Ein Hoch auf uns!“) spielt nicht nur in dieser Szene gewohnt stark auf, sondern mimt die sich auf überzeugend anstrengende Weise selbst bemitleidende und doch immer auch ein Stückweit bemitleidenswerte Mutter mit extrem viel Fingerspitzengefühl. Sowohl den hysterischen Gefühlsausbruch, als auch das stille Dahinvegetieren auf der Couch schockiert einen auf seine ganz eigene Art und Weise. Dem gegenüber stehen Luna Wedler („Das schönste Mädchen der Welt“) und Zoë Baier („In die Sonne schauen“), von denen Erstere locker mit Tonke mithalten kann. Wedler gelingt es spielend, das Gros von „22 Bahnen“ auf ihren Schultern zu tragen. Ihre Performance ist gleichermaßen mitreißend wie emotional, dabei immer glaubhaft und nahbar. Die elfjährige Baier dagegen lässt ebenfalls mehrfach schauspielerisches Talent durchblitzen, gleichwohl ist ihr immer wieder anzumerken, dass sie im Gegensatz zum Rest des Ensembles noch nicht allzu oft vor der Kamera stand. In den Nebenrollen spielt sich vor allem Jannis Niewöhner („Bekenntnisse des Hochstaplers Felix Krull“) hervor, der in seinen Szenen stark agiert, ansonsten jedoch dem vorwiegend weiblichen Ensemble den Raum zu Entfaltung lässt.
Vielmehr noch als um das Thema Alkoholsucht handelt „22 Bahnen“ davon, wie es ist, im Schatten dessen erwachsen zu werden respektive es sein zu müssen, obwohl man es eigentlich noch gar nicht ist. Das Motiv der titelgebenden 22 Bahnen, die Tilda täglich im ortsansässigen Schwimmbad zieht („22 Bahnen, die nur mir gehören“ sagt sie einmal darüber), dienen als perfektes Symbolbild für ihre Lebenssituation. Auf jedes Hinabtauchen und Luftanhalten folgt kurz darauf das Auftauchen und Luftholen – immer wieder, routiniert und berechenbar. Tilda bei der Suche nach Balance zwischen familiärer Last und Selbstbestimmung zuzuschauen, ist oft schmerzhaft. Man spürt förmlich, was für ein Potenzial in der Einserstudentin steckt, die von ihrem Dozenten sogar für eine Promotionsstelle in Berlin vorgeschlagen wird. Tildas Zerrissenheit zwischen der sich selbst auferlegten Verantwortung für ihre Schwester und dem Wunsch nach Freiheit ist zu jedem Zeitpunkt spürbar. Dass sich dabei nicht jedes Problem bis zum Filmende in Wohlgefallen auflöst respektive das Finale sogar erstaunlich bittersüß ausfällt, ist der Verfilmung hoch anzurechnen. Denn hin und wieder fährt „22 Bahnen“ dann doch Motive auf, die sich in derartigen Geschichten langsam abgenutzt haben.
„Tilda bei der Suche nach Balance zwischen familiärer Last und Selbstbestimmung zuzuschauen, ist oft schmerzhaft. Man spürt förmlich, was für ein Potenzial in der Einserstudentin steckt, die von ihrem Dozenten sogar für eine Promotionsstelle in Berlin vorgeschlagen wird.“
Dazu gehört unter anderem Tildas immer einen Tick zu möchtegern-bedeutend klingende Voice-Over. Auch dadurch ist „22 Bahnen“ längst nicht so kantig wie etwa ein „Sonne und Beton“, obwohl die zwei Filme auch visuell etwa in einer Liga spielen. In beiden Filmen fühlt sich das darin porträtierte Milieu – fernab der im modernen Deutschkino sonst so häufig präferierten „Besserverdiener-Gegenden“ – authentisch an. Das dürfte es insbesondere einem Jugendpublikum leicht machen, sich mit den hier dargestellten Problemen rund um Identitätsfindung und Zukunftshoffnung zu identifizieren. Selbst wenn das Thema Alkoholismus im eigenen Leben gar keine Rolle spielt.
Fazit: „22 Bahnen“ ist ein sensibles Familiendrama, das weniger auf Schockmomente setzt als auf glaubwürdige Figuren und starke Darstellerinnen. Auch wenn der Inszenierung manchmal die Dringlichkeit fehlt, gelingt es, Tildas Zerrissenheit zwischen Verantwortung und Selbstbestimmung eindringlich zu zeigen – ein berührender Film, der vor allem jungen Zuschauer:innen viel Identifikationspotenzial bietet.
„22 Bahnen“ ist ab dem 4. September 2025 in den deutschen Kinos zu sehen.



