Systemsprenger

Mit Nora Fingscheidts Drama SYSTEMSPRENGER geht Deutschland in diesem Jahr an den Start um den Oscar in der Kategorie Bester fremdsprachiger Film. Und man hat seit langer Zeit mal wieder das Gefühl, dass die Chancen auf den Sieg gar nicht so schlecht stehen. Warum, das verraten wir in unserer Kritik.

OT: Systemsprenger (DE 2019)

Der Plot

Pflegefamilie, Wohngruppe, Sonderschule: Egal, wo Benni hinkommt, sie fliegt sofort wieder raus. Die wilde Neunjährige ist das, was man im Jugendamt einen „Systemsprenger“ nennt. Dabei will Benni (Helena Zengel) eigentlich nur eines: Liebe, Geborgenheit und wieder bei Mama wohnen! Doch Bianca (Lisa Hagmeister) hat Angst vor ihrer unberechenbaren Tochter. Als es keinen Platz mehr für Benni zu geben scheint und keine Lösung mehr in Sicht ist, versucht der Anti-Gewalttrainer Micha (Albrecht Schuch) , sie aus der Spirale von Wut und Aggression zu befreien.

Kritik

Um den zentralen Konflikt in Nora Fingscheidts kraftvollem Drama „Systemsprenger“ freizulegen, kommt man nicht drumherum, erst einmal die titelgebende Begrifflichkeit näher zu erläutern. Unter einem Systemsprenger versteht man im Beamtendeutsch sozusagen ein derart schwer erziehbares Kind, dass es das System aus Erziehungsheimen, Betreuern und anderweitigen Institutionen sprengt, ihm also trotz des Umherreichens von der einen in die andere Einrichtung nicht geholfen werden kann. Dass das Drama rund um das impulsive kleine Mädchen Benni „Systemsprenger“ heißt und nicht etwa ihren Namen trägt (geschweige irgendeinen Titel, der nur falsche Sentimentalität schüren würde), hat also schon einen sehr guten Grund. Natürlich geht es Nora Fingscheidt in ihrem Film auch um Benni selbst. Vor allem aber klagt sie ebenjenes System an, das neben der tragischen Hintergrundgeschichte des kleinen blonden Satansbratens sehr wohl die Mitschuld an dieser Misere trägt. Wenn Benni (die eigentlich Bernadette heißt, diesen Namen aber uncool findet) nämlich eines Tages mit einem Messer auf ihre Betreuer loszugehen droht oder gar einen kleinen Jungen ins Koma prügelt – um nur zwei von diversen sprachlos machenden Szenarien aufzuzählen, die „Systemsprenger“ seinem Publikum hier präsentiert – dann kommt man gar nicht auf die Idee, das kleine Mädchen schützend in den Arm nehmen zu wollen, sondern ist in erster Linie so hilflos und wütend wie Benni selbst. Ein mutiger erzählerischer Schritt, deren Konsequenz sich bis in den Abspann hinein auszahlt.

Selbst Bennis Mutter Bianca (Lisa Hagmeister) hat Angst vor ihrer Tochter (Helena Zengel).

Gerade in der Anfangsphase von „Systemsprenger“ hätte durchaus die Gefahr bestanden, dass Nora Fingscheidt ihre Geschichte unter der Flagge falscher Rührseligkeit aufzieht. Wenn sie schon nach wenigen Minuten einen ersten Ausraster zeigt, in dessen Laufe der eigentlich so zarte Blondschopf erst wie eine Furie um sich schlägt und Plastikspielautos gegen Fensterscheiben schmettert, nur um in der nächsten Szene stehlend und beleidigend durch die Straßen ihrer Nachbarschaft zu ziehen, dann kommen einem schnell Gedanken an Formate wie „Die Super Nanny“ und dergleichen in den Sinn. Vielleicht hätte der Privatsender RTL einen Fall wie Benni damals ganz ähnlich bebildert. Und die schon damals umstrittene Katja Saalfrank hätte an das Durchsetzungsvermögen und die Strenge der Eltern appelliert, weil man so einem Kind wie Benni eben nur einfach auch mal Grenzen zeigen müsse, damit sie dieses respektlose Verhalten ihrer Umwelt gegenüber nicht mehr an den Tag legt. Dass es sich bei Benni aber eben nicht einfach nur um eine bockige Neunjährige handelt, sondern ihre Probleme von deutlich größerem Kaliber sind, zeigt sich nicht erst bei besagter Messer-Szene. Die spektakuläre Neuentdeckung Helena Zengel, deren nächstes Projekt, ein Western an der Seite von Tom Hanks, bereits feststeht, legt in ihre körperlichen Ausbrüche eine derartige Wucht und versieht auch die ruhig-emotionalen Momente mit einer solchen Vielschichtigkeit, dass man genau weiß: Hier ist es mit klassischen Erziehungsmaßnahmen längst nicht mehr getan. Dieses Mädchen trägt derart schwere Narben in ihrer Seele spazieren, dass es für seine Heilung weitaus mehr bedarf als die üblichen Therapieskills.

„Die spektakuläre Neuentdeckung Helena Zengel legt in ihre körperlichen Ausbrüche eine derartige Wucht und versieht auch die ruhig-emotionalen Momente mit einer solchen Vielschichtigkeit, dass man genau weiß: Hier ist es mit klassischen Erziehungsmaßnahmen längst nicht mehr getan.“

Doch auch den Fehler, Benni „nur“ zu einem bedauernswerten Opfer der Umstände zu machen, begeht Nora Fingscheidt nicht. Zwar ordnet sie den Ursprung von Bennis Problemen sehr genau ein, lokalisiert das gewaltgeschwängerte, an der eigenen Tochter gleichermaßen desinteressierte wie von ihr vollkommen überforderte Familienumfeld als klaren Auslöser für Bennis Probleme. Gleichsam schaukeln sich die Ursachen und Folgen immer wieder gegenseitig hoch. Während die Protagonistin ernsthaft gewalttätig ist, schaut das Umfeld nur zu – und andersherum. Und genau an diesem Punkt beginnt schließlich auch, das System zu versagen. Denn dieses sieht in Kindern wie Benni eben nur eines von vielen. Individuelle Maßnahmen gibt es so gut wie keine, auch weil sie vom Aufwand, den Kosten und vom Personalbedarf her schlicht nicht umsetzbar wären. Stattdessen kommt das Mädchen erst von der Familie in ein Heim, ist zwischendurch immer mal wieder zu Besuch in Krankenhäusern, doch das was Benni eigentlich bräuchte – eine dauerhafte, feste Bezugsperson – ist in dieser Ansammlung an Therapieansätzen nicht vorgesehen. Und so werden immer mal wieder anklingende Erfolge kontinuierlich im Keim erstickt; nicht zuletzt, weil Benni nicht einfach nur ein im wahrsten Sinne des Wortes unberechenbares Temperament besitzt, sondern weil sie auch unzählige Traumata mit sich herum trägt, die keiner bloßen Erziehungstherapie, sondern in erster Linie einer Heilung bedürfen.

Ob Anti-Gewalt-Trainer Micha (Albrecht Schuch) mit Benni zurechtkommt?

Um sowohl die Dimensionen als auch die Schneise der Verwüstung aufzuzeigen, die Benni als Systemsprenger hinterlässt, greift die auch für das Drehbuch verantwortliche Fingscheidt auf möglichst viele unterschiedliche Szenarien zurück. Einige davon wiederholen sich; Etwa wenn Bennie im Laufe der Geschichte mehrmals im Krankenhaus ruhig gestellt werden muss oder bei den kurzen Abstechern in Wohngruppen deutlich wird, dass auch in diesem recht unpersönlichen Umfeld keine Aussicht auf Heilung gegeben ist. Dann wiederum widmet sich Fingscheidt außergewöhnlicheren Methoden. Ein mehrtätiger Ausflug in eine einsame Waldhütte, zusammen mit einem Anti-Gewalttrainer (stark: Albrecht Schuch) zum Beispiel. Auch solche Ideen wie ein Aufenthalt in Afrika werden immer mal wieder diskutiert und bringen die Verzweiflung aller Beteiligten hervorragend auf den Punkt. Das gilt auch für die Inszenierung selbst. „Systemsprenger“ löst sich nicht nur erzählerisch angenehm von gängigen Erzähldramaturgien, was den Film zudem genauso unberechenbar erscheinen lässt wie seine Protagonistin. Kameramann Yunus Roy Imer („Hinter dem Schneesturm“) sorgt für einen dokumentarischen Look – verwackelt, rau und trotzdem immer übersichtlich. Komponist John Gürtler („Hundesoldaten“) unterstreicht Bennis emotionale Ausbrüche auf der Tonspur bisweilen etwas zu deutlich – als würde es nicht ausreichen, all die Wut und Verzweiflung des kleinen Mädchens für sich sprechen zu lassen.

„‚Systemsprenger‘ löst sich erzählerisch angenehm von gängigen Erzähldramaturgien, was den Film genauso unberechenbar erscheinen lässt wie seine Protagonistin.“

Doch da der Film in den ruhigen Momenten – von denen es übrigens deutlich mehr gibt, als von den sicher noch vielzitierten Eskalationsszenen – akustisch unauffällig bleibt, passt es ja eigentlich fast schon wieder, den Zuschauer im richtigen Moment einfach mit allem zu überrollen, was man als Filmemacher in dem Moment zur Verfügung hat. An dieses Mädchen wird man sich noch lange erinnern!

Fazit: Am Ende von „Systemsprenger“ ist man erst einmal ganz schön geschafft, denn das, was die zum Zeitpunkt der Dreharbeiten zehnjährige Newcomerin Helena Zengel hier für einen Perforceritt abliefert, ist für den Zuschauer regelrecht am eigenen Leib zu spüren. Dass bei so einer bärenstarken Performance der eigentliche Kern der Geschichte nicht ins Hintertreffen gerät, ist der hervorragenden Schreib- und Inszenierungsleistung von Nora Fingscheidt zu verdanken, die mit ihrem Film gute Chancen auf den Oscar haben dürfte.

„Systemsprenger“ ist ab dem 19. September in den deutschen Kinos zu sehen.

6 Kommentare

  • Meine Lösung: die Mutter mit ihren drei Kindern als Ganzes in eine Betreuung zusammen zu fassen .

  • Wundert mich schon sehr das es keinen Traumatherapieplatz für das Mädchen gibt das wäre ja wohl das erste..was hier greifen sollte..und das bitte mit der ganzen Familie..es gibt eine Menge dieser Kinder..die sich so verloren fühlen wie dieses Mädchen..leider wird heute alles in Schubladen gepackt und nie der wirkliche Grund eroiert..dazu fehlen Zeit ..Mittel und wirkliche Menschen denen es etwas bedeutet.und kein Allgemeinblabla oder Lehrbuchgefasel..Ein toller und trauriger Film zugleich der hier mal die Realität darstellt..in unserer doch so angeblich perfekten Gesellschaft nach aussen..

  • Michael Füting

    Dramaturgisch betrachtet sehe ich den Film eher so: es ist die Zumutung einer Geschichte, die eben kein positives Ende erlaubt. Keine Lösung, keine Heilung, auch nicht in einer besseren Welt. Also das antike Bild der Tragödie, wo der Tod DIE Lösung ist. Darauf läuft der Film unweigerlich hinaus. Alle Versuche sind fehlgeschlagen, das Trauma sitzt zu tief, das Mädchen kann die Realität von Frustration der legitimen Verweigerung ihrer Glücksmomente halt nicht ertragen. Sie tickt gefährlich aus. Die reale Welt muss nach ihren Verantwortungs-Gesetzen einschreiten. Mich überzeugt der Film in seinen ästhetischen Mitteln der Traumdarstellung und des Zustands des Austickens: Bildflächen. Ich hätte mir nur ein früheres, besseres Ende gewünscht. Sie sollte erfrieren und dann schon tot sein, nicht noch mal Krankenhaus, noch mal Mutter. Wenn sie da bei Minusgraden eingeschlafen ist, dann hat sie diesen wunderbaren Traum mit dem Hund, in dessen warme Hütte sie geht. Der nun dran gepappte Schluss am Flughafen zitiert das Ende von Thelma & Louise und DAS ist, mit Verlaub, doch etwas ganz anderes. Klar, dass der Film beim Oscar chancenlos war. Die Amis wollen derlei Filmausgang nicht sehen, sie kapieren ihn nicht mal.

    • Petra Abadschieff-Ziegelmüller

      Soll das die“Lösung“sein?Das kleine Mädchen ist zu böse für die Welt und sollte sich gleich Mal selbst entsorgen?In einem“schönen Traum“erfrieren wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern?Die arme kleine Maus in dem gleichnamigen Anderson-Märchen war ja so brav,genau das zu tun.Klaglos alle Ungerechtigkeit und Lieblosigkeit hinnehmend bis zum bitterkalten Ende.So wird es von Frauen auch heute noch erwartet.Und von Kindern.Erst Recht,wenn sie Mädchen sind.Ja keinem mit der eigenen Not auf die Nerven gehen,sich bloß nicht wehren,nicht brüllen,nicht fluchen,nicht kämpfen.Wer sich auflehnt gegen ein System,das“schwierige Kinder“bis nach Afrika schickt,um das“Problem“auszulagern,statt kleinen Menschen ein liebevolles zu Hause zu ermöglichen,ist eine Gefahr für die Gesellschaft,also weg damit.In dem Film klang sogar an,dass“zu enge persönliche“Bindungen zwischen diesen umhergestoßenen Kindern und Erwachsenen,die ihnen helfen wollen und Zuneigung schenken,gar nicht erwünscht sind.Ergebnis:Durch diese Beziehungslosigkeit erfieren Kinder innerlich.Bis sie immer kälter,brutaler und gefährlicher werden.Also weg mit den kleinen Störenfrieden.Die Gesellschaft muss vor ihnen geschützt werden.Gut,dass das kleine Mädchen mit den Schwefelhölzern erfroren ist,bevor es mit diesen Feuer legen konnte.Da scheint sich bei manchen sozial kompetenten Erwachsenen eine ganz schön krude Moral etabliert zu haben…

    • Ja,GENAU dieses Ende kann sich eine Gesellschaft,die vor Wohlerzogenheit und Selbstgerechtigkeit platzt,nur wünschen:Die böse kleine Benni entsorgt sich wegen“der legitimen Verweigerung ihrer Glücksmomente“gleich mal selbst,indem sie nach ihrem gefährlichen Austicker in die Botanik flieht und dort erfriert.Wie das Mädchen mit den Schwefelhölzern.Die von bösen Kindern bedrohte Gesellschaft könnte einmal mehr aufatmen.Ein Problem-Kind weniger-ein Problem weniger.Wie dumm,dass Benni da nicht mitspielt.SCHON WIEDER NICHT:So sind sie halt,die Systemsprenger.Keine Chance für Primitiv-Lösungen.Und so kämpft sich Benni weiter durch eine Welt,die nichts so sehr zu fürchten scheint,wie genau das,wonach sich dieses agressive,traurige kleine Mädchen am meisten sehnt: LIEBE.Eine tiefe,emotionale Beziehung,eine enge persönliche Bindung,wie sie zwischen Eltern und Kindern eigent- lich der Fall sein sollte.Als eine Mitarbeiterin beginnt,mütterliche Gefühle für Benni zu entwickeln,wird ihr genau das vorgehalten:Sie entwickele eine zu enge persönliche Bindung zu Benni.Doch gerade dieser Mangel an emotionaler Bindung,das Fehlen von Liebe und Geborgenheit verstärkt das Problem.Vielleicht werden Kinder wie Benni immer lauter und agressiver,um endlich wahrgenommen zu werden.Klar,Liebe ist kein Allheilmittel,doch sie ist schon mal ein Anfang…Das Ende des Filmes ist meiner Meinung eher symbolisch als plakativ:Benni sprengt mit ihrer Energie mal wieder die unsichtbaren Grenzen eines Systems…

  • Petra Abadschieff-Ziegelmüller

    Ich finde es sehr gut,dass es dieses frühe Ende im Stile von“Das Mädchen mit den Schwefelhölzern nicht gegeben hat.Denn da ist das kleine Mädchen erfroren,weil es in einem unmenschlichen System funktionierte,ohne sich zu wehren.Doch Benni ist eine kleine Kämpferin.Sie schreit und tobt und schlägt sich durch ihr Leben,will gehört,gesehen und geliebt werden.Mit allen Mitteln.Sie gibt nicht auf.Das ist für alle fast unerträglich.Doch das,was Kinder wie Benni erleben ist erst Recht unerträglich.Denn wie im Film deutlich wurde:Sobald ein“zu enger persönlicher Bezug“zu wem auch immer aufgebaut wird,muss das kleine Mädchen(so wie viele dieser Kinder)weitergereicht werden.Doch gerade diese Beziehungslosigkeit lässt Kinder traurig,schwierig und mitunter auch sehr aggressiv werden.Das Ende des Films mit dem Riss in der Glasscheibe ist vielleicht eher ein Symbol:Der Versuch,die unsichtbaren Wände,die Bennis Leben betimmen,endlich zu sprengen.

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