The Secret Agent
Geschichten über die brasilianische Militärdiktatur gibt es wenige. Filme, die dabei wirklich überraschen, noch weniger. Kleber Mendonça Filhos THE SECRET AGENT zeigt, dass politische Vergangenheit auch heute noch packend, kühn und visuell originell erzählt werden kann.
Darum geht’s
Brasilien in den Siebzigerjahren: Marcelo (Wagner Moura) ist ein Technologieexperte, der nach langer Abwesenheit in seine Heimat Recife zurückkehrt. Hier will er sich ein neues Leben aufbauen und wieder Bande mit seinem entfremdeten Sohn Fernando knüpfen, den er viel zu lange nicht gesehen hat. Doch inmitten der politischen Spannungen der brasilianischen Militärdiktatur wird er in ein Netz aus Überwachung, Verfolgung und geheimen Machtspielen hineingezogen. Während er versucht, seine Vergangenheit hinter sich zu lassen und einen normalen Alltag zu führen, haben es zwei Auftragskiller auf ihn abgesehen. Denn irgendeinen Grund muss es ja haben, dass Marcelo nicht unter seinem echten Namen in Erscheinung treten kann…
Kritik
Gefühlt erscheinen jährlich Dutzende Filme über die im Zweiten Weltkrieg verübten Gräueltaten. Mal aus dieser, mal aus jener Perspektive. Immer irgendwie betroffen. Heute jedoch nur noch selten erinnerungswürdig. Einfach weil alles, aber auch wirklich alles aus dieser Zeit schon erzählt wurde. Doch dann kam 2023 Jonathan Glazers „The Zone of Interest“ in die Kinos. Und plötzlich bekam man den Eindruck, dass offenbar doch noch nicht alles zur Genüge ausformuliert wurde. Man ist einfach nur der ewig gleichen Methoden und Perspektiven überdrüssig. Auch über die brasilianische Militärdiktatur von 1964 bis 1985 gibt es Filmprojekte, jedoch längst nicht in einer vergleichbaren Anzahl oder Vielfalt. Das Jahr 2025 hat sogar gleich zwei Projekte mit dieser Thematik aus der Taufe gehoben. Und beide Filme überraschen nicht nur durch ihre erzählerische Kühnheit, sondern auch durch ihre kreative Formensprache, die oft über das hinausgeht, was man von historischen Dramen gewohnt ist. Sie zeigen, dass sich selbst politisch belastete Vergangenheit neu und packend inszenieren lässt – in einer Intensität und Originalität, die viele Holocaustfilme trotz ihrer Vielzahl an Produktionen manchmal nicht erreichen.

Marcelo (Wagner Moura) ist nicht der Einzige, der unter falschem Namen versucht, eine neue Identität aufzubauen.
Walter Salles „Für immer hier“ über Eunice Paiva, die Ehefrau des von der brasilianischen Regierung verschleppten Rubens Paiva, gewann Anfang des Jahres sogar den Oscar in der Kategorie „Bester fremdsprachiger Film“. Dem unweit experimenteller angelegten Crime-Drama „The Secret Agent“ von „Bacurau“-Regisseur Kleber Mendonça Filho rechnen Expert:innen zum jetzigen Zeitpunkt bereits ähnliche Chancen aus. Beide Filmemacher wählen für ihre Geschichten unkonventionelle Erzählperspektiven, um die Zeit der brasilianischen Militärdiktatur gleichermaßen emotional wie außergewöhnlich zu bebildern. In „Für immer hier“ war es eben nicht der politische Gefangene selbst, sondern dessen Angehörige, um die sich alles drehte. Was es mit dem Protagonisten aus „The Secret Agent“ genau auf sich hat, bleibt sogar lange Zeit komplett im Dunkeln. Wir erfahren nur, dass dieser charismatische Marcelo nicht unter seinem richtigen Namen auftritt, dass er bei den falschen Leuten – wer auch immer das sein mag – ins Visier geraten ist und dass er unweigerlich um sein Leben fürchten muss. Klingt nach einer tonal eindeutig verortbaren Angelegenheit, irgendwo zwischen Drama und Thriller. Doch anstatt eine geradlinige Geschichte zu erzählen, wählt Filho einen Ansatz, der lange Zeit kaum zu greifen ist.
„Wer hier wirklich wichtig und wer nur eine Randnotiz ist, ergibt sich meist erst in den finalen (und wirklich sehr ausufernden) zweieinhalb Stunden. Was allerdings nicht bedeutet, dass nicht auch die Randnotizen ihren Teil dazu beitragen würden, dass ‚The Secret Agent‘ so besonders ist, wie er es eben ist.“
Selbst nach einer Stunde von „The Secret Agent“ bleibt es schwer, genau zu fassen, worum es in der Geschichte eigentlich geht. Neben Protagonist Marcelo holt der Regisseur und Autor viele, viele weitere Figuren aufs Tableau. Manche von ihnen erhalten einen ganz eigenen Handlungsstrang, einige wiederum streifen das Geschehen nur im Vorbeigehen. Wer hier wirklich wichtig und wer nur eine Randnotiz ist, ergibt sich meist erst in den finalen (und wirklich sehr ausufernden) zweieinhalb Stunden. Was allerdings nicht bedeutet, dass nicht auch die Randnotizen ihren Teil dazu beitragen würden, dass „The Secret Agent“ so besonders ist, wie er es eben ist. Viele größere, im Gesamtkonstrukt des Films allerdings ins Leere laufenden Szenenaufbauten wirken wie in sich geschlossene Anthologiefilmepisoden. In einer Szene etwa besucht Marcelo gemeinsam mit ein paar anderen Männern einen einst im Zweiten Weltkrieg schwer verwundeten Juden (gespielt von Udo Kier). Da dieser fälschlicherweise für einen Nazi gehalten wird, muss er seine Narben ganz nach Belieben seiner Mitmenschen regelmäßig wie ein Zirkuspferd präsentieren; eine durch und durch unangenehme Angelegenheit. Doch so entrückt sie vom Rest auch wirkt, unweit absurder ist da nur der pulpige Kurzfilm rund um ein abgetrenntes Killer-Bein (quasi wie „Rubber“, nur mit einem Bein anstatt eines Reifens), das im nächtlichen Brasilien nach neuen Opfern sucht, um sie anschließend blutrünstig niederzumeucheln.
Letztgenannte Sequenz entfaltet sich als ein Gespräch zwischen mehreren Frauen und ist im Kleinen genau das, was „The Secret Agent“ im Großen leistet. Denn so fragmentarisch und bisweilen unkoordiniert die Geschichte in ihren Versatzstücken oft erscheint, so nachvollziehbar wirkt sie im Gesamtkonstrukt. Nicht zuletzt, weil alles im Film den willkürlichen Mechanismen und der flirrenden Atmosphäre der brasilianischen Militärdiktatur unterworfen ist. Marcellos Geschichte setzt sich aus Kassettenaufnahmen zusammen, die in der Gegenwart von zwei Studentinnen im Rahmen eines Forschungsprojekts durchgehört werden. Chronologie oder Gewähr auf Vollständigkeit? Fehlanzeige! Die vielen daraus resultierenden Leerstellen werden auch nicht unbedingt befriedigender, wenn man weiß, dass sie vom Regisseur beabsichtigt wurden. Man muss sich darauf einlassen, am Ende von „The Secret Agent“ mit vielen offenen Fragen konfrontiert zu werden. Ganz gleich, wie charmant und rund Kleber Mendonça Filho die beiden Zeitebenen zum Schluss miteinander verknüpft. An diesem Punkt entwickelt der Film noch einmal einen starken emotionalen Punch – ganz ohne experimentelle Sperenzchen, allein durch die Konzentration auf die vielschichtigen, über Generationen hinweg wirkenden emotionalen Aspekte seiner Geschichte.
Buchmacher sehen Hauptdarsteller Wagner Moura („Civil War“) bereits im erweiterten Favoritenkreis auf einen Oscar in der Kategorie „Bester Hauptdarsteller“. Das ist nicht verwunderlich. Abseits davon, dass „The Secret Agent“ in seiner thematischen Bandbreite aus Politik, Paranoia, moralischer Ambiguität und Gesellschaftskritik natürlich waschechter Oscar-Stoff ist, hinterlässt auch Mouras Performance mächtig Eindruck. Der hier optisch stark an Jamie Dornan erinnernde Mime vermittelt mit nuancierten, vielschichtigen Gesten die inneren Konflikte seiner Figur, die von Angst, Paranoia und moralischer Zerrissenheit geprägt ist. Selbst in ruhigen Momenten spürt man die Spannung und Bedrohung, die seine Figur durchlebt, während sein Körperausdruck die beklemmende Atmosphäre der Diktatur unterstreicht. Moura balanciert dabei gekonnt zwischen Mitgefühl, Schuldgefühlen und einem Hauch von Zynismus, wodurch sein Charakter glaubwürdig zwischen Überleben, Anpassung und moralischer Verantwortung hin- und hergerissen wirkt. Seine magnetische Präsenz zieht selbst in Ensemble-Szenen den Fokus auf sich und passt perfekt zum Ton eines Films, der Thriller, psychologisches Drama und surrealistische Elemente miteinander verbindet.
„Abseits davon, dass ‚The Secret Agent‘ in seiner thematischen Bandbreite aus Politik, Paranoia, moralischer Ambiguität und Gesellschaftskritik natürlich waschechter Oscar-Stoff ist, hinterlässt auch Mouras Performance mächtig Eindruck.“
Fazit: „The Secret Agent“ überrascht durch seine fragmentarische, experimentelle Erzählweise, die lange Zeit schwer zu fassen ist und sich bewusst von klassischen Dramaturgien löst. Die Vielzahl an Figuren und scheinbar losgelösten Episoden mag herausfordernd wirken, verleiht dem Film aber Tiefe und Komplexität. Wagner Mouras nuanciertes Schauspiel vermittelt die inneren Konflikte seines Charakters eindrucksvoll und trägt maßgeblich zur beklemmenden Atmosphäre bei. Trotz offener Fragen und sperriger Strukturen überzeugt der Film durch emotionale Intensität, erzählerische Kühnheit und kreative Originalität – ein herausragendes Beispiel dafür, wie politische Geschichte packend und innovativ inszeniert werden kann.
„The Secret Agent“ ist ab dem 6. November 2025 in den deutschen Kinos zu sehen.

