The 355

In Simon Kinbergs THE 355 kämpft eine Gruppe internationaler Superagentinnen gegen einen unsichtbaren Feind. Die dafür aufgewandten Mittel ähneln dabei stark an zahlreiche andere Filme aus dem Actionthrillerkino. Trotzdem macht der Filmemacher die mangelnde Innovation mit einigen erzählerischen Finessen und einer herausragenden Besetzung zum Teil wieder wett. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: The 355 (CHN/USA 2022)

Der Plot

Eine global operierende Organisation ist kurz davor, in den Besitz einer Waffe zu gelangen, welche die Welt in großes Chaos stürzen würde. Um sie aufzuhalten, muss sich CIA-Agentin Mason Browne (Jessica Chastain) mit ihren größten Konkurrentinnen verbünden: der britischen Technikspezialistin Khadijah (Lupita Nyong´o), der kolumbianischen Psychologin Graciela (Penélope Cruz), der chinesischen Computerexpertin Lin mi Sheng (Bingbing Fan) und der draufgängerischen Marie (Diane Kruger) aus Deutschland. Ihre hochriskante Mission führt die fünf Frauen um die ganze Welt – von den Pariser Cafés, über die marokkanischen Souks bis in das glamouröse Shanghai. Doch nur wenn sie es schaffen, ihre Rivalitäten zu überwinden und ihre besonderen Fähigkeiten zu vereinen, können sie ihren mächtigen Gegner besiegen. Gemeinsam bilden sie eine neue Agenteneinheit: Codename „355“.

Kritik

Am Anfang des Trailers zu Simon Kinbergs Actionthriller „The 355“ heißt es sinngemäß, dass man zu Zeiten „alter Kriege“ noch wusste, welche Köpfe sich auf der zu bekämpfenden Gegenseite befinden, während die Widersacher von heute zumeist im Dunkeln agieren; Oder gar nicht erst Menschen, sondern wie in diesem Fall die Weltordnung zu zerstören drohende Technologien sind. Mit dieser Aussage wollten die Macherinnen und Macher hinter der Vorschau wohl erreichen, die Aktualität und die damit einhergehende Abgrenzung von allzu bekannter Actionthriller-Ware jüngerer Vergangenheit hervorzuheben. Doch dass sich ein Team von knallharten Helden anschickt, ein technisches Gadget wiederzuerlangen, mit dem Bösewichte die Menschheit wahlweise ausschalten oder die völlige Kontrolle über sie erlangen wollen, ist nun wahrlich nicht neu. Im vergangenen Jahr kam etwa „Fast & Furious 9“ mit einem solchen Plot daher. Simon Kinberg ändert die altbekannte Prämisse nun insofern ab, als dass er aus den Helden konsequent Heldinnen macht; das vermutlich einzige Alleinstellungsmerkmal von „The 355“ und Hauptverkaufsargument für einen Film, der irgendwie wie der Auftakt zu einer Serie wirkt. Schon allein, weil man den hochkarätigen Cast nur zu gern wiedersehen würde. Nein, Innovation und frische Ideen bietet „The 355“ nicht unbedingt. Trotzdem holen Kinberg und sein Team aus dem ausschließlich weiblichen Cast einige Vorzüge mehr heraus, als ausschließlich darauf zu verweisen, dass toughe Frauen auch ganz gut ohne Männer klarkommen.

Die „355“ besprechen mit einem ihrer Vorgesetzten die nächsten Schritte in ihrer Mission.

Die Sache mit dem „ausschließlich weiblichen Cast“ stimmt derweil nur bedingt. Im Zentrum steht zwar eine Gruppe von Frauen, die mit Ausnahme ihrer vom Schreibtisch aus agierenden Vorgesetzten keinerlei männliche Unterstützung erhalten. Auf der Gegenseite finden sich derweil einmal mehr nur männliche Widersacher. Und das obendrein auch noch in einer schon vielfach dargebotenen Form. Offenbar brauchen Superschurken von heute einfach einen Akzent, um irgendwie bedrohlich zu wirken… Nun mag man hinter der Idee einer solchen „Superwomen-Crew“ Kalkül und/oder das Aufspringen auf einen sich seit Jahren bereits abzeichnenden Trend vermuten. Und dass das Skript von Simon Kinberg („X-Men: Dark Phoenix“) und Theresa Rebeck („Catwoman“) manch einen Oneliner beinhaltet, der ein wenig zu deutlich auf den Gender-Aspekt verweist, ohne dass es in diesem Moment authentisch in die Handlung passt, lässt darauf schließen, welchen Stellenwert die Wahl einer rein weiblichen Heldinnen-Gruppierung für die Schreiberinnen und Schreiber besessen haben mag. Trotzdem gelingt es dem Duo auch hin und wieder, sich auf smarterer Weise mit der Thematik auseinanderzusetzen. Etwa wenn die heimliche Crew-Anführerin Mason kurz feststellen darf, dass sich Superspion James Bond ja eigentlich nie so wirklich mit privaten Angelegenheiten herumschlagen musste. Das ist zwar  spätestens seit der Daniel-Craig-Ära auch nicht mehr ganz aktuell, aber ein Stückweit stimmt es schon. Und so bekommen Mason und ihre Kolleginnen von Anfang an ein stabiles Privatleben zugeteilt, was sie für ihre Gegner nicht nur noch angreifbarer macht, sondern sie vor allem wiederholt in den Gewissenskonflikt „Familie oder Karriere?“ bringt, was den Film immer wieder zu ungeahnter Emotionalität verhilft.

„Im Zentrum steht zwar eine Gruppe von Frauen, die mit Ausnahme ihrer vom Schreibtisch aus agierenden Vorgesetzten keinerlei männliche Unterstützung erhalten. Auf der Gegenseite finden sich derweil einmal mehr nur männliche Widersacher.“

Da ist es durchaus schade, dass Simon Kinberg abseits hiervon wenig aus der eigentlichen Prämisse macht. Vielleicht war aber auch gerade das sein Ziel. Getreu dem Motto: Weshalb sollte man von der altbewährten Actionthriller-Formel abweichen, nur weil hier plötzlich Frauen im Mittelpunkt stehen? Dabei wäre doch genau das die Möglichkeit gewesen, nicht bloß mit den gängigen Genretropes zu überzeugen, sondern eigene, aus den Charakterzügen der Hauptfiguren resultierende Akzente zu setzen. Erzählerisch liegt „The 355“ auf dieser Ebene brach. Inszenatorisch dagegen kann der Regisseur die Versäumnisse dagegen häufig ausgleichen. Insbesondere die zahlreichen Actionszenen bestechen hier durch angenehm offene Choreographien. Viele Nahkämpfe und Verfolgungsjagden wirken nicht bis ins kleinste Detail durchgeplant, sondern lassen Spielraum für Improvisation. Genauso gehen bei den zahlreichen Schießereien glaubhaft oft Schüsse daneben, ohne dass die Protagonistinnen dadurch direkt inkompetent erscheinen würden. Das lässt „The 355“ nicht nur angenehm unperfekt und – zumindest an Genreverhältnissen gemessen! – realistisch erscheinen. Hinzu kommt außerdem, dass sich Mason, Khadijah, Marie und Graciela nie ausschließlich auf ihre Körperlichkeit verlassen, sondern zwischenzeitlich immer wieder taktisch smarte Entscheidungen treffen, um sich ihren Gegnern in den Weg zu stellen. Die Heldinnen in „The 355“ sind tough aber nicht übermenschlich – und vielleicht gerade dadurch vielen ihrer männlichen Kollegen ein Stückweit voraus. Insbesondere im Hinblick auf etwaige Fortsetzungen besteht bei drn tiefergehenden Charakterzeichnung der Hauptfiguren jedoch noch viel Luft nach oben, damit sich auch auf emotionaler Ebene mit den Agentinnen mitfiebern lässt.

Mason ‚Mace‘ Brown (Jessica Chastain) auf Schurkenjagd in Frankreich…

So bekommt man mit „The 355“ vor allem Business as usual präsentiert. Das ist zwar oft nicht kreativ aber immerhin effektiv. Mit den zahlreichen Schauplatzwechseln von den USA über Marokko nach Deutschland und Frankreich bis hin in den kolumbianischen Dschungel bekommt man als Zuschauer:in Einiges von der Welt zu sehen – und nicht etwa nur verschiedene Vegetationen innerhalb Osteuropas wie beispielsweise in „Killer’s Bodyguard 2“. Während die CGI-Effekte, insbesondere von krachenden Explosionen, nicht immer ganz sauber aussehen und die FSK-Freigabe ab 16 im Anbetracht der weitestgehend unblutigen Auseinandersetzungen deutlich zu hoch gegriffen wirkt (in den USA erhielt der Film ein PG-13-Rating), weiß der Cast anstandslos zu gefallen. Obwohl sich Jessica Chastain („Molly’s Game“) alsbald als eine Art Leaderin herauskristallisiert, schiebt sich darstellerisch kein Ensemblemitglied in den Vordergrund. Stattdessen ergänzen sich die verschiedenen Wesenszüge und Fähigkeiten der Kolleginnen: Die deutsche Marie etwa zeichnet sich durch strenge Perfektion und einen größtmöglichen Verzicht auf Empathie aus, während die überhaupt nicht in Spionageangelegenheiten ausgebildete Psychologin Graciela zumeist fassungs- und ahnungslos daneben steht; „Mitgefangen – mitgehangen!“ eben. Und doch weiß auch sie das Team in den entscheidenden Momenten zu unterstützen. Nicht zuletzt weil sich Lupita Nyong’o („Wir“) als warmherzige Vermittlerin zwischen ihren so unterschiedlichen Mitstreiterinnen erweist und für einen Großteil der betonten Menschlichkeit in „The 355“ im Alleingang verantwortlich ist. Kurzum: Die Zusammensetzung matcht. Und wir können nicht oft genug betonen, dass wir gerade von dieser mehr sehen mögen.

„Während die CGI-Effekte, insbesondere von krachenden Explosionen, nicht immer ganz sauber aussehen und die FSK-Freigabe ab 16 im Anbetracht der weitestgehend unblutigen Auseinandersetzungen deutlich zu hoch gegriffen wirkt, weiß der Cast anstandslos zu gefallen.“

Gegen die Mädels bleiben die männlichen (Neben-)Figuren weitestgehend blass – und ihre Beweg- sowie Hintergründe innerhalb des Plots erschließen sich all jenen viel zu schnell, die irgendwann schon einmal einen Actionthriller dieses Kalibers gesehen haben. Viele Nebenplots funktionieren ausschließlich über dramaturgische Zweckmäßigkeit. Im Klartext: Viele Dinge passieren nur (oder eben nicht), damit der Film nicht schon nach der Hälfte der Laufzeit um ist. Das ist also nicht so viel anders als bei diversen artverwandten Spionagethrillern, jedoch umso bedauerlicher, wenn man bedenkt, dass eigentlich schon genügend andere Leute vor Simon Kinberg dieselben Versäumnisse gemacht haben. Da hätte hier doch weitaus mehr als ein gesundes Mittelmaß drin sein können.

Fazit: Der Actionthriller „The 355“ punktet mit einem tollen Cast, angenehm realistischen Actionszenen und seinen zahlreichen Schauplatzwechseln. Das Potenzial eines ausschließlich weiblichen Hauptcasts weiß Regisseur und Co-Autor Simon Kinberg leider nicht voll auszuschöpfen. Trotzdem gefällt Endergebnis an den entscheidenden Stellen, sodass man sich gut vorstellen kann, noch mehr Zeit mit den Heldinnen der „355“ zu verbringen.

„The 355“ ist ab sofort in den deutschen Kinos zu sehen.

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