The Nest – Alles zu haben ist nie genug

„Martha Marcy May Marlene“ war nur der Anfang. Mit seinem herausragend fotografierten Psychogramm einer zerbröselnden Ehe beweist Regisseur und Autor Sean Durkin, dass er keine Eintagsfliege ist. THE NEST – ALLES ZU HABEN IST NIE GENUG gehört zweifellos zu den frühen Filmhighlights des Jahres 2021. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: The Nest (UK/CAN 2020)

Der Plot

England, 1986: Nachdem Rory (Jude Law), ehrgeiziger Unternehmer und ehemaliger Rohstoffmakler, seine Frau Allison (Carrie Coon) und die gemeinsamen Kinder davon überzeugt hat, die Komfortzone einer amerikanischen Vorstadt zu verlassen um in seiner alten Heimat einen Neuanfang zu wagen, pachtet er ein völlig entlegenes, jahrhundertealtes Landgut mit weitem Gelände für Allisons heißgeliebte Pferde. Endlich scheinen Rory und Allison alles zu haben, was sie immer wollten. Doch alles ist für Rory nicht genug. Seine Gier wird ihm zunehmend zum Verhängnis und wächst schleichend zu einer immer größeren Bedrohung für seine Ehe und Familie heran.

Kritik

Als Filmemacher:in hat man nach einem gelungenen Einstand zwei Möglichkeiten, um sich in der Branche einen Namen zu machen: Entweder man orientiert sich inhaltlich und tonal an seinem Erstlingswerk und erarbeitet sich somit zügig einen gewissen Wiedererkennungswert. Oder man schlägt gänzlich neue Wege ein, um sich bloß nicht zu schnell in eine Schublade stecken lassen zu müssen. Insbesondere Genrefilmer:innen zieht es ja häufig irgendwann in Richtung Mainstream – nicht so Sean Durkin, der sich nach seinem erschütternden Psychothriller „Martha Marcy May Marlene“ über eine Sektenaussteigerin jetzt erneut daran wagt, seelische Abgründe zu erkunden. Diesmal steht allerdings kein junges Mädchen auf Identitätssuche im Fokus, sondern eine Familie am Rande des Nervenzusammenbruchs. Die heraufbeschworene, beklemmende Stimmung, die stets aus kleinen subtilen Beobachtungen, nie aus großen Gesten oder ausführlichen Dialogen resultiert, bleibt jedoch dieselbe. „The Nest – Alles zu haben ist nie genug“ ist die präzise ausformulierte Dekonstruktion des vermeintlich Intakten – Familie, Beruf, Emotionen; In „The Nest“ wird früher oder später alles seiner wackeligen Substanz entlarvt. Und obwohl das mitunter ganz schön niederschmetternd ist, gelingt Sean Durkin trotzdem ein äußerst unterhaltsamer Film.

Rory (Jude Law) und Allison (Carrie Coon) scheinen mit der Pacht eines englischen Landguts am Ziel ihrer Träume angelangt zu sein.

In einer der ersten Szenen sehen wir Hauptfigur Rory in Großaufnahme am Telefon. Jude Laws Lippen sind zu einem professionellen Grinsen verzogen, die Stimme überschlägt sich fast vor Freundlichkeit, als er am anderen Ende einen Geschäftspartner begrüßt. Nach dem Gespräch ist er zufrieden, denn es hat sich ihm gerade eine neue berufliche Perspektive eröffnet, die er seiner geliebten Frau Allison umgehend erzählen muss – allerdings nicht, ohne ihr vorher noch liebevoll den Kaffee ans Bett zu bringen und ausgelassen mit seinem Sohn Fußball zu spielen. Diese ersten Minuten prägen „The Nest“ auf seinem weiteren Weg: Jude Law („Spy – Susan Cooper Undercover“) mimt den voll und ganz in seinem Job als Unternehmer aufgehenden Rory mit ansteckender Passion: Seine Höflichkeit gegenüber seinen Kollegen mag einstudiert sein; insbesondere in den Close-Ups erkennt man den Unterschied zwischen einem ehrlich glücklichen und einem professionell freundlichen Rory. Doch seine Leidenschaft für den Beruf ist so mitreißend, dass man dem jungen Mann genauso auf den Leim geht wie er sich selbst. Kleine Beobachtungen wie etwa die Tatsache, dass der jeden Morgen ans Bett seiner Frau gebrachte Kaffee plötzlich ausbleibt, verhelfen dem Idyll zu ersten Rissen, da scheint bei den O’Haras per se noch alles in Ordnung zu sein. Es wäre leicht gewesen, diesen auf den ersten Blick neureichen Yuppie zu einem eindimensionalen Arschloch zu machen respektive ihn im Laufe der 100 Minuten zu einem solchen werden zu lassen. Doch Rorys Charakterwandel vollzieht sich deutlich schleichender, ist dadurch aber nicht minder reizvoll.

„Rorys Höflichkeit gegenüber den Kollegen mag einstudiert sein; insbesondere in den Close-Ups erkennt man den Unterschied zwischen einem ehrlich glücklichen und einem professionell freundlichen Rory. Doch seine Leidenschaft für den Beruf ist so mitreißend, dass man dem jungen Mann genauso auf den Leim geht wie er sich selbst.“

Je stärker sich Rory seinem beruflichen Ehrgeiz hingibt und alsbald in eine (nie bösartige, dafür grenzenlos naive) Manie verfällt, desto stärker rückt die Kehrseite seiner zuvor auf den ersten Blick so nett gemeinten Gesten in den Fokus. Das teure Landgut am Stadtrand ist auf einmal nicht mehr die Erfüllung des lang gehegten Traums einer eigenen Immobilie, sondern ein bewusst gewähltes Statussymbol, das mit der Zeit nicht mehr bloß einladend wirkt, sondern immer unheimlichere Züge annimmt. Genauso wie der teure Pelzmantel an seine aus ärmlichen Verhältnissen stammende Frau oder der Bau eines eigenen Stallgebäudes für das ebenfalls von ihm geschenkte Pferd. Dass Sean Durkin zudem die späten Achtzigerjahre als Setting gewählt haben dürfte, um mit „The Nest“ einen politisch höchst brisanten Film über den britischen Wirtschaftswandel zu erzählen, der zu Ende gedacht in gewisser Weise als „Brexit-erklär-Film“ durchginge, verhilft seinem Film zu einer weiteren, politischen Ebene, auf der Jude Law einen Mann verkörpert, der seiner Zeit dato weit voraus, und damit zur falschen Zeit am falschen Ort ist. Nur wenige Jahre später wären die Ereignisse für ihn vermutlich ganz anders ausgegangen. So aber erliegt Rory dem ihm die Sinne vernebelnden Duft des Geldes, bis ihn das Ausbleiben desselben unsanft wieder auf den Boden der Tatsachen zurückholt.

Rorys Ehefrau Allison auf einem Empfang.

Doch man täte „The Nest“ Unrecht, würde man den Film ausschließlich auf die Entwicklung Rorys reduzieren. Seine Taten mögen die Antriebsfeder der Ereignisse sein, doch parallel zu seiner rasanten Auf- und Abstiegsstory erzählt Sean Durkin die (Leidens-)Geschichte seiner von Carrie Coon („Gone Girl“) herausragend intensiv verkörperten Frau Allison, die sich zunächst noch mit der Aufgabe die Zeit vertreibt, ihr neues Pferd auszubilden, jedoch nach und nach immer mehr in ihrer Einsamkeit ertrinkt und die Belange ihrer Kinder aus den Augen verliert. Dabei erzählt Durkin nicht die typische Geschichte einer von ihrem Mann als Heimchen zurückgelassenen Ehefrau, sondern ein auf eigenen Beinen stehendes Drama, das wie schon „Martha Marcy May Marlene“ viel mit Identitätenfindung zu tun hat. Erst durch die Abwesenheit erkennt die nie um einen toughen Spruch oder selbstbewussten Konter verlegene Allison ihre eigenen Bedürfnisse und lernt, für diese und sich einzustehen. Um diese aufzuzeigen, benötigt Durkin wenig Worte, lässt stattdessen vielmehr die Bilder für sich sprechen. In extrem langen Kameraeinstellungen (Mátyás Erdély, „Son of Saul“) bekommt das Publikum die Gelegenheit, sich in der Mimik der Darsteller:innen zu verlieren und dabei selbst kleinste Veränderungen als Reaktion auf Gehörtes oder Gesehenes wahrzunehmen. In Rory und Allison rumort es stetig, doch nur ein einziges Mal resultiert daraus ein handfester Streit, der jedoch nicht viel mehr zur ohnehin bekannten Situation beitragen kann. Stattdessen überzeugen an „The Nest“ vor allem die subtilen Beobachtungen. Insbesondere im Hinblick auf die Kinder gelingen Sean Durkin starke (Under-)Statements zum tatsächlichen Zustand der Familie. Anders als etwa „Marriage Story“ oder artverwandte Filme ist „The Nest“ keiner, der das endgültige Auseinanderbrechen der Familie forciert, sondern der immer auch in Aussicht stellt, die tiefen Risse, die das Idyll nach und nach zu zerstören drohen, noch kitten zu können.

„In extrem langen Kameraeinstellungen bekommt das Publikum die Gelegenheit, sich in der Mimik der Darsteller:innen zu verlieren und dabei selbst kleineste Veränderungen als Reaktion auf Gehörtes oder Gesehenes wahrzunehmen.“

Mátyás Erdély gelingt mit seinen präzisen Kamerafahrten, aufgeräumten Bildern und kontrastreichen Farben eine fesselnde Bildsprache, die „The Nest“ trotz seiner Dramagrundlage in ein diffus spannendes Thrillergewand kleidet. Richard Reed Parrys minimalistischer Score, aus dem sich die meiste Zeit über kurze, dissonante, dafür umso einprägsamere Piano-Tonabfolgen herausschälen, tut sein Übriges, um den Film zu jedem Zeitpunkt unberechenbar zu gestalten. Spätestens wenn Allison eines abends über eine offene Tür stolpert, die sie erst wenige Sekunden zuvor geschlossen hatte, würde es nicht wundern, sollte „The Nest“ auf einmal zum Haunted-House-Gruselfest mutieren. Die verwinkelte Villa mit ihren unzähligen Gängen, Geheimtüren und verborgenen Abseiten wäre die perfekte Kulisse für einen Horrorfilm. Doch selbst wenn Sean Durkin in der zweiten Hälfte einen aufsehenerregenden Todesfall und dessen Folgen zur symbolischen Unterfütterung seiner Geschichte bemüht, so bleibt sein Film bis zuletzt ein herbes Drama, das die geistigen Ausnahmezustände seiner Protagonist:innen auf brachiale Weise auslotet. Je nachdem wen man fragt, ist auch das eine Form des Horrors.

Fazit: In „The Nest – Alles zu haben ist nie genug“ seziert „Martha Marcy May Marlene“-Regisseur Sean Durkin eine vermeintlich perfekte Familie, was dank der herausragenden Bildsprache, dem starken Ensemble und dem Gespür für zwischenmenschliche Details fesselnd und intensiv gerät.

„The Nest – Alles zu haben ist nie genug“ ist ab dem 8. Juli 2021 in den deutschen Kinos zu sehen.

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