The Call

Zwei Frauen, zwei Zeiten, ein Telefon: Der südkoreanische Netflix-Film THE CALL bringt frischen frischen Wind ins Zeitreisekino und überzeugt mit überraschenden Handlungsverläufen und einer starken Ästhetik. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

OT: Call (KOR 2020)

Der Plot

Nachdem die junge Koreanerin Seo-yeon (Park Shin-Hye) eines Tages ihr Smartphone verliert, muss sie vorrübergehend über ihr altes Tastentelefon kommunizieren. Umso überraschter ist sie, dass ebendieses bereits kurz darauf klingelt und eine Frau namens Young-sook (Jong-seo Jun) ihr am anderen Ende der Leitung brutale Details aus ihrem von ihrer strengen Mutter (Sung-ryung Kim)  geprägten Leben erzählt, merkt Seo-yeon schon bald, dass es sich hierbei nicht um einen gewöhnlichen Hilferuf handelt. Stattdessen befinden sich beide Frauen im selben Haus – allerdings in völlig unterschiedlichen Jahren. Das Telefon scheint eine Verbindung zu sein, deren Funktion über den menschlichen Verstand hinaus geht. Und die nicht nur in der Lage ist, Unheil in der Vergangenheit abzuwenden, sondern auch ein neues für die Zukunft zu erschaffen…

Kritik

Zeitreisefilme gibt es mittlerweile in jedem Genre: RomCom („Alles eine Frage der Zeit“), Horrorfilm („Happy Deathday 2U“), Superheldenblockbuster („Avengers: Endgame“), philosophisches Sci-Fi-Drama („Arrival“): Nie war die Auswahl so groß, wenn es darum ging, Menschen dabei zuzusehen, die auf ganz unterschiedliche Arten damit umgehen, dass sie nicht bloß durch den Raum, sondern auch durch die Zeit reisen können – und damit auch die Fantasie des Zuschauers beflügeln: Was würde ich eigentlich tun, wenn ich in die Zeit zurück- oder sogar in die Zukunft reisen könnte? Der seit Ende November auf Netflix verfügbare „The Call“ lässt sich ebenfalls dem Zeitreisefilm zuordnen, eine weitere Genreeinordnung fällt darüber hinaus schwer. Der südkoreanische Regisseur Chung-Hyun Lee schlägt in seinem Langfilmdebüt (bislang geht nur das Short Movie „Bargain“ aus dem Jahr 2015 auf sein Konto) so viele verschiedene, tonal stellenweise einander widersprechende Töne an, dass nicht nur eine Einordung in klassische Filmgattungen schwerfällt, sondern auch eine Besprechung, ohne zu viel zu verraten. Wer im Vorfeld allerdings möglichst wenig über „The Call“ weiß, dem sei versprochen, dass er eine der interessantesten Filmwendung des Jahres erlebt – doch Obacht: eine Wendung ist nicht automatisch ein aufsehenerregender Twist!

Young-sook (Jong-seo Jun) sucht Hilfe bei einer Unbekannten…

Im Englischen lässt sich „Twist“ sehr wohl mit dem Begriff „Wendung“ übersetzen. Gleichwohl hat sich dieser Terminus im Filmbereich aus einem ganz anderen erzählerischen Kniff entwickelt. Ein Twist ist ein Storymoment, in dem die bisher verfolgte Handlung und die Wahrnehmung derselben auf links gedreht wird. Bestes Beispiel: M. Night Shyamalans „The Sixth Sense“, der diesen Begriff maßgeblich prägte. Das Urteil, dieser oder jener Film fahre mit einem Twist auf, bedeutet für viele Filmliebhaber automatisches Interesse an ihm. Denn ein guter Twist überrascht – und da man im Jahr 2020 schon so ziemlich alles auf der großen Leinwand oder dem heimischen Bildschirm gesehen hat, ist so ein „überraschend“ schon ein ziemlich reizvolles Prädikat. Dadurch hat es sich über die Jahre aber auch ergeben, dass der Begriff „Twist“ inflationär für so ziemlich jedes unvorhergesehene Ereignis in einer Geschichte angewandt wird. Dabei ist es kein Twist, wenn eine Story einfach nur einen überraschenden Verlauf nimmt. „The Call“ ist dafür das beste Beispiel. Da bereits im Vorfeld die Zeitreise- (oder eher: Zeitkommunikations-)Prämisse kommuniziert wurde, ist es nicht überraschend, wenn sich nach rund zwanzig Minuten herausstellt, dass die unbekannte Frau am Telefon aus einem anderen Jahr anruft. Wohl aber die Entwicklung der Geschichte, denn während sie klar als Opfer ihrer harten Muttererziehung etabliert wird, die Angerufene derweil als Retterin, korrigiert der auch für das Drehbuch zuständige Chung-Hyun Lee diesen Eindruck mit der Zeit. Man sollte sich eben nicht vom Offensichtlichen täuschen lassen!

„Es hat sich über die Jahre ergeben, dass der Begriff „Twist“ inflationär für so ziemlich jedes unvorhergesehene Ereignis in einer Geschichte angewandt wurde. Dabei ist es kein Twist, wenn eine Story einfach nur einen überraschenden Verlauf nimmt.“

Viel näher wollen wir auf diesen Aspekt der Geschichte nicht eingehen. Denn egal ob nun Lehrbuchtwist oder nicht: Überraschend sind die Geschehnisse in „The Call“ definitiv. Auch, weil die beiden Hauptdarstellerinnen Park Shin-Hye („The Heirs“) und Jong-seo Jun („Burning“) ihre vollkommen gegensätzlichen gezeichneten Rollen hervorragend ausfüllen. Shin-Hye gibt die aufopferungsvolle Retterin, die jederzeit mit den direkten Konsequenzen ihres Handelns konfrontiert wird – und die den drohenden Nervenzusammenbruch, gepaart mit dem Willen, alles nur Erdenkliche zu tun, um sich und Young-sook zu retten, herausragend intensiv darbietet. Jong-seo Jun kommt derweil ein fast noch schwieriger Spagat zu: Ihre Rolle der misshandelten Tochter durchlebt einen Wandel, der dank des darstellerischen Fingerspitzengefühls der Mimin nie in die Unglaubwürdigkeit abzudriften droht, wodurch beide Seiten dieser interessanten Figur authentisch zur Geltung kommen. In den Nebenrollen fällt die Performance von Sung-ryung Kim („The Chaser“) als herrische, gewaltbereite Mutter am stärksten ins Auge. Leider erfährt man von ihren Beweggründen zu wenig, um die Figur als mehr wahrzunehmen denn ein Schurkenstereotyp, der in manch einer Szene gar droht, zur Karikatur zu werden. Sie ist der wohl größte Schwachpunkt an „The Call“…

Womit wird Seo-yeon (Park Shin-Hye) als Nächstes konfrontiert?

… der allerdings nur marginal ins Gewicht fällt, da sich die Taten der Mutter vor allem auf die erste Hälfte der mit knapp zwei Stunden großzügig bemessenen Laufzeit beziehen. Die zweite Hälfte der Story gehört ganz den beiden Hauptdarstellerinnen und der interessanten Zeitreiseidee. Während sich ja seit jeher darüber streiten lässt, welches fiktionale Zeitreisekonzept nun das beste, das konsequenteste, das logischste (wenn man davon den bei einer solchen Fantasy-Prämisse überhaupt sprechen mag) ist, so geht Chung-Hyun Lee die Thematik in „The Call“ noch einmal ganz anders an als seine zahlreichen Kollegen: Eine Änderung in der Gegenwart hat direkte Auswirkungen auf die Zukunft, die unmittelbar auf das folgen, was eine Figur in der Vergangenheit tut. Wenn sich Young-sook etwa  dazu entschließt, in ihrer Gegenwart ein Feuer zu machen, sieht man kurz darauf, wie sich Seo-yeons Umgebung dadurch in Echtzeit um sie herum verändert. Eine solch unmittelbare Abfolge von Aktion und Reaktion, verteilt über zwei verschiedene Zeiten, zwischen denen mehrere Jahre liegen, besitzt im ansonsten bereits recht leergefischten Segment des Zeitreisekinos durchaus Innovationswert – erst recht durch die Art und Weise, wie es Chung-Hyun Lee, derartige Abläufe zu bebildert. Wenn der Film zum Finale hin zudem immer häufiger zwischen den Zeiten hin- und herspringt, verhilft ihm das trotz seiner üppigen Laufzeit zu einem hohen Tempo. Da kann man schon mal Mühe haben, den Ereignissen zu folgen. Vielleicht ist das der beste Grund, sich „The Call“ mehr als einmal anzuschauen.

„Eine solch unmittelbare Abfolge von Aktion und Reaktion, verteilt über zwei verschiedene Zeiten, zwischen denen mehrere Jahre liegen, besitzt im ansonsten bereits recht leergefischten Segment des Zeitreisekinos durchaus Innovationswert.“

Fazit: „The Call“ ist ein spannender, kurzweiliger Zeitreisefilm, der viele verschiedene Genreeinflüsse in sich vereint, dadurch unberechenbar ist und im Mittelteil eine Richtung einschlägt, die man zu Beginn keineswegs kommen sieht. Ein waschechter Netflix-Geheimtipp!

„The Call“ ist ab sofort bei Netflix streambar.

4 Kommentare

  • Zu TWIST. Das ist ein Problem in der Branche, dass man leichtfertig Begriffe falsch benutzt. Mein Beispiel: Der synomyme Gebrauch von STORY und PLOT. Redakteure tun das gerne, so wie so auch gerne ‚mitplotten‘.
    Aber eine Story ist etwas anderes, es ist das Ganze, mit Vorgeschichte und Konsequenzen, der ganze Eisberg sozusagen, mit all dem unter Wasser. Den muss ein Autor kennen. Respekt also für die Leistung von Autoren…

    • Nico Schwertfeger

      Hey, bin durch Kino plus und der stark geschrieben Kritik auf den Film aufmerksam geworden und muss sagen mir hat er echt gut gefallen 😀. Was mir echt negativ aufgefallen ist. Das netflix die Wendung des Filmes echt schon im Beschreibungstext verbaut. Was mich echt arg geärgert hatte. Schade ansonsten mach weiter so. Immer schön was von dir zu lesen

      • Hi Michael! Schön, dass Du auf meine Seite gefunden hast. Und: Ja, Netflix hat sich in der Vergangenheit ein paar Missgeschicke in der Bewerbung seiner Filme erlaubt. Das gilt sowohl für Klassiker wie „Sieben“ (in der in der Vorschau einfach mal die Ergreifung John Does gezeigt wird) als auch für aktuelle Produktionen wie eben „The Call“. Ist ein wenig schade, gerade bei „The Call“ hätte ich es sehr gut gefunden, wenn man die entscheidende Wendung nicht vorab verraten hätte.

  • Wow, danke für den Tipp – ich liebe Zeitreisen!

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