Reise nach Jerusalem

Eine Frau in den Klauen des deutschen Arbeitsmarkts – Regisseurin und Drehbuchautorin Lucia Chiarla benötigt für ihr Drama REISE NACH JERUSALEM kein abgehobenes Szenario um ihrem Publikum eine Welt zu präsentieren, die beklemmender ist, als mancher Horrorfilm. Mehr dazu verraten wir in unserer Kritik.

Der Plot

Eigentlich war Alice (Eva Löbau) in ihrem Job als Texterin immer erfolgreich. Doch als Freelancerin ist man nicht davor gefeit, auch mal auf die Schnauze zu fallen. Seit Monaten nimmt ihre Zahl an Auftraggebern ab, mittlerweile ist sie Dauergast auf dem Arbeitsmarkt. Hier unternimmt Alice alles, um möglichst schnell wieder Arbeit zu finden. Doch weder die Amtsmitarbeiter, noch ihre Eltern sind ihr dabei eine Hilfe. Also schleppt sich die 38-jährige von Maßnahme zu Maßnahme, schreibt Bewerbungen, verdient sich durch Produkttests was dazu und kann doch nicht verhindern, dass ihre Bezüge gekürzt werden. Das alles wäre ja nur halb so schlimm, wenn Alice nicht auch noch versuchen müsste, den schönen Schein von der unabhängigen Selbstständigen aufrechtzuerhalten. Doch in ihrem Freundeskreis scheinen ohnehin alle viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt zu sein, als dass sich irgendjemand für ihre Probleme interessieren würde…

Kritik

Keine überstilisierten Probleme, kein großes Drama, kein konstruierter Konflikt – nein, „Reise nach Jerusalem“ erzählt einfach nur den Alltag vieler Menschen nach. Menschen, die durch widrige Umstände ihren Job verloren haben. Wie Alice. „Einsamkeit und Sex und Mitleid“-Star Eva Löbau schlüpft in die Rolle einer Frau, mit der sich viele Menschen identifizieren können. Sie ist das Opfer der Umstände, eines unübersichtlichen Arbeitsmarktes, kaum nachvollziehbarer Entscheidungen und ihrem Versuch, sich als Selbstständige ihre eigene Existenz aufzubauen. Etwas, wovon die Verfasserin dieser Zeilen selbst ein Lied singen kann. Als das scheitert, bricht Alice innerlich zusammen, muss sich und ihrem Ego zuliebe aber so tun, als wäre das alles gar nicht passiert, respektive nur halb so schlimm. Das ganz große Drama gibt es so gesehen also doch – nur die italienische Regisseurin und Drehbuchautorin Lucia Chiarla („Bye Bye Belusconi!“) lässt dieses ausschließlich im Inneren ihre Protagonistin stattfinden. Einer Protagonistin, die auf der Leinwand eine knapp zweistündige Tour de Force durchlebt, die über die kleinen Dinge ihren ganzen Schrecken entfaltet.

Alice (Eva Löbau) findet in ihrem Nachbarn einen Zuhörer.

Wenn dem Leiter der von der Agentur für Arbeit organisierten Maßnahme Alices Nase nicht passt, muss sich diese vor versammelter Mannschaft schikanieren lassen – muckt sie auf, werden ihre Bezüge gekürzt. Ihre nicht minder verzweifelten Eltern raten ihr zu einer Branche, mit der Alice überhaupt nichts anfangen kann (Erzieherin – da gibt es schließlich immer freie Stellen); wohl wissend, dass ihre Tochter darin zwar nicht glücklich wird, sie dadurch aber immerhin endlich wieder Arbeit und damit verbunden auch Geld hätte. Und wenn Alice im Supermarkt buchstäblich jeden Cent zusammenkratzt, weil ihr Konto tief im Minus steckt und sie sich aber unbedingt noch diese eine Packung Kekse gönnen will, dann bohren sich die Blicke der Umstehenden nicht bloß ganz tief in Alices Seele, sondern auch wir wissen in diesem Moment ganz genau, wie unangenehm sich das alles für Alice gerade anfühlen muss. Viel zu diesem Feeling bei trägt die smarte, da jederzeit durchdachte Kameraarbeit von Ralf Noack („Desaster“), der draufhält, bis es unangenehm wird, immer ganz nah an seiner Protagonistin bleibt und sie trotzdem permanent wie ein aus dem Rahmen fallendes Puzzleteil in der Umgebung platziert – diese Frau scheint ihren Platz in der Gesellschaft längst verloren zu haben.

Dass das Skript, für das die Regisseurin selbst verantwortlich zeichnete, Alice in der zweiten Hälfte dann trotzdem noch mit zwei, drei Problemen konfrontiert, die im Gegensatz zu den 60 Minuten zuvor fast schon konstruiert wirken (Stichwort: Stripper), nimmt „Reise nach Jerusalem“ ein klein wenig seiner angenehmen Allgemeingültigkeit, wodurch sich jeder Zuschauer, der bereits einmal in dieser oder einer ähnlichen Situation war, mit der Protagonistin mitfühlen kann. Da wird aus der Identifikationsfigur eben doch eine Filmfigur – das lässt „Reise nach Jerusalem“ an sich zwar nicht in einem negativeren Licht erstrahlen, ermöglicht dem Zuschauer allerdings eine Distanz zum Geschehen, was auf die einen erleichternd wirken könnte, während die anderen den Mangel an Konsequenz zurecht kritisieren dürften. So oder so ist „Reise nach Jerusalem“ ein behutsames Drama und bietet einen Einblick in eine Hölle, von der jeder Mensch froh sein kann, wenn er nicht mindestens einmal in seinem Leben durch selbige gehen muss. Und genau dieses Bewusstmachen der verfahrenen Situation macht den Film zu einer solchen emotionalen wie filmischen Gewalt.

Alice verzweifelt am Geldautomaten…

Eva Löbau hat bereits in der bemerkenswert offenen Episodentragikomödie „Einsamkeit und Sex und Mitleid“ ihren Mut zur Unerschrockenheit unter Beweis gestellt. In eine ganz so radikale Richtung wie die Rolle in Lars Montags Werk geht ihre Alice hier zwar nicht. Gleichzeitig kennt Löbau auch diesmal keinerlei Scheu vor Nacktheit und Natürlichkeit. Wenn es körperlich wird, ist Eva Löbau – im wahrsten Sinne des Wortes – mit Haut und Haaren dabei. Selbst in den Momenten intimster Betroffenheit findet die Schauspielerin immer einen Weg, das Innenleben ihrer Figur für das Publikum greifbar zu machen. Auch der Rest des Ensembles stellt sich voll und ganz in den Dienst des Films; Lucia Chiarla profitiert davon, dass man es hier ausschließlich mit Darstellern zu tun hat, die nicht bereits durch bekannte Rollen aufgefallen sind. In Kombination mit der dokumentarischen Farbgestaltung erweckt das alles den Eindruck absoluter Authentizität. Das nette Gimmick, als Hintergrundmusik ausschließlich Warteschleifenmelodien laufen zu lassen, verleiht „Reise nach Jerusalem“ zusätzlichen Charme und unterstreicht auch nochmal die Dimensionen, zu denen die Arbeitslosigkeit für Alice führt: Obwohl eigentlich „nur“ ihr Arbeitsleben brach liegt, wirkt sich das gleichermaßen auf alles andere aus. Und genau dieses Gefühl der sich sukzessive zuziehenden Schlinge um den Hals der Hauptfigur ist es, das diesen Film bisweilen so unerträglich macht – im besten Sinne natürlich.

Fazit: „Reise nach Jerusalem“ ist ein schmerzhafter Blick auf die Hölle Arbeitslosigkeit. Eva Löbau verkörpert glaubhaft und unerschrocken eine gescheiterte Mittdreißigerin, die alles unternimmt, um wieder fußzufassen – und scheitert. Nicht so der Film. Authentischer hätte man das Thema nicht einfangen können, auch wenn sich das Skript gen Ende ein wenig konstruierter anfühlt, als es sein müsste.

„Reise nach Jerusalem“ ist ab dem 15. November in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen.

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