Mord im Orient Express

43 Jahre nach Sidney Lumets bislang erfolgreichster Verfilmung des Agatha-Christie-Romans MORD IM ORIENT EXPRESS verfilmt Hollywoodstar Kenneth Branagh einen der größten Kriminalfälle der Geschichte erneut – in 70 Millimeter und mit dem Who-Is-Who des Filmgeschäfts. Mehr dazu verrate ich in meiner Kritik.

Der Plot

Es ist ein eisiger Wintertag, als der berühmte Orient Express seine Reise von Istanbul nach Wien antritt. Die Passagiere an Bord des Zuges stammen aus den höchsten Kreisen: adlige Herrschaften, ein amerikanischer Multimillionär, etliche Diplomaten und nicht zuletzt der belgische Meisterdetektiv Hercule Poirot (Kenneth Branagh). Als der Zug in Jugoslawien in einem Schneesturm stecken bleibt, richten sich alle auf eine lange Nacht ein. Am nächsten Morgen wird im Schlafwagen die Leiche des amerikanischen Millionärs Ratchett (Johnny Depp) gefunden – getötet durch zwölf Messerstiche. Hercule Poirot steht vor einem seiner schwierigsten Fälle und unterzieht alle Passagiere des Abteils einem Verhör. Eines steht fest: Der Mörder muss noch im Orient Express sein…

Kritik

Agatha Christies Roman „Mord im Orient Express“ gehört zu den bekanntesten Kriminalgeschichten überhaupt. Entsprechend häufig wurde die zunächst unter dem deutschen Titel „Die Frau im Kimono“ veröffentlichte Story für andere Medien adaptiert; am erfolgreichsten von Sidney Lumet, dessen Verfilmung 1974 mit sechs Oscar-Nominierungen bedacht wurde, von denen Ingrid Bergmann den Award in der Kategorie „Beste weibliche Nebenrolle“ schließlich auch gewinnen konnte. Weitere Kino- und Fernsehproduktionen auf dieser Grundlage erreichten nie den Status von Lumets Werk; das könnte sich jetzt ändern. Der ohnehin für seine üppig ausgestatteten Regiearbeiten bekannte Kenneth Branagh („Cinderella“) findet mit seiner Variante von „Mord im Orient Express“ zu einem Hollywoodstandard zurück, der so viel zu lange von der großen Leinwand verschwunden war. Im 70-Millimeter-Format gedreht (nach „Dunkirk“ der zweite Film in diesem Jahr), inszeniert er berauschende Bilder, in denen handgemachte Nostalgie auf hochmoderne Technik trifft. Bestückt mit dem aktuellen Who-is-Who der Schauspielbranche ist es Kenneth Branagh gelungen, eine altbekannte Vorlage ins Hier und Jetzt zu übertragen, ohne dabei den altmodischen Charme des Originals zu verleugnen. Damit gehört „Mord im Orient Express“ nicht bloß zu den besten Filmen des laufenden Kinojahres, sondern dürfte in diversen technischen Kategorien große Chancen auf den begehrten Academy Award haben.

Hercule Poirot (Kenneth Branagh) will den Mörder ausfindig machen.

Als vor einigen Monaten der erste Teaser-Trailer zu „Mord im Orient Express“ veröffentlicht wurde, sorgte die Auswahl der Hintergrundmusik für einen nicht unerheblichen Aufruhr in den sozialen Netzwerken. So entschieden sich die Verantwortlichen nämlich, die ersten bewegten Bilder zum Krimi mit der Musik der aktuell schwer angesagten Alternative-Band Imagine Dragons zu unterlegen – eine Auswahl, die bei kaum jemandem ankommen wollte, denn der moderne „Believer“-Sound biss sich doch arg mit den altmodisch-klassischen Bildern aus dem Inneren eines europäischen Luxuszuges in den Dreißigerjahren. Doch die Skeptiker können aufatmen: Kenneth Branagh nutzt zwar jedwede technischen Möglichkeiten, um seiner Variante von „Mord im Orient Express“ zu einem möglichst modernen Erscheinungsbild zu verhelfen, doch bezieht sich das hier vornehmlich auf die Qualität des Films; der Look von Ausstattung und Kostümierung (ein Großteil der Handlung findet in der detailgetreu nachgebauten Kulisse des Zuges statt) ist im besten Sinne nostalgisch. Große Zugeständnisse an die modernen Sehgewohnheiten werden weder in der Kameraarbeit (Haris Zambarloukos), noch im Schnitt (Mick Audsley) oder der Musikuntermalung (Patrick Doyle) gemacht. Stattdessen könnte dieser Film hier genauso gut in den Siebzigerjahren entstanden sein, sodass „Mord im Orient Express“ eine Brücke schlägt vom jungen Blockbuster-Publikum, hin zu den Liebhabern klassischer Kriminalfilme – beide Seiten werden von Kenneth Branagh mit viel Liebe zum Detail, einem genauen Blick für optische Opulenz und einem beachtlichen Gespür für Suspense bedient.

Eine Geschichte wie jene rund um die Mörderjagd im Orient Express ist nicht bloß Kult, sie ist ein regelrechter Klassiker und gehört damit fast schon zum kulturellen Allgemeinwissen. Insofern wäre es für viele Leser wohl überhaupt kein Spoiler, wenn wir an dieser Stelle darauf eingehen würden, ob sich Drehbuchautor Michael Green („Blade Runner 2049“) bei seiner Arbeit an der Vorlage orientiert, oder ob er neue Wege einschlägt. Gleichzeitig eröffnet die 2017er-Version von „Mord im Orient Express“ den Stoff aber auch einer völlig neuen Generation – und daher bewahren wir an dieser Stelle Stillschweigen über den Ausgang der Geschichte. Beispielhaft ist indes einmal mehr vor allem, wie es den Verantwortlichen gelingt, einen eigentlich simplen Whodunit-Plot (also die Ermittlungen, wer ein bestimmtes Verbrechen begangen hat) dramaturgisch so zu inszenieren, dass man sich nicht vorkommt, als befände man sich gerade in einem x-beliebigen Fernsehkrimi. Dafür sorgt nicht bloß die exotische Kulisse, sondern neben den äußerst präzise aufspielenden Darstellern vor allem das Wechselspiel aus mitreißenden, punktgenauen Dialogen und die Interaktion innerhalb der nahezu perfekten Figurenkonstellation. Letztere kann sich natürlich nicht der am Vorbild festhaltende Michael Green auf die Fahne schreiben; das war ganz allein Agatha Christies Werk. Gleichwohl erkennt man in „Mord im Orient Express“ die Zeitlosigkeit eines guten Kriminalplots, den Brannagh in seiner Performance als ebenso gewiefter wie süffisanter Detektiv Hercule Poirot zusätzlich mit einer guten Portion Witz würzt.

Einer der vielen Passagiere wird später tot sein. Die anderen werden zu Verdächtigen…

Neben Hauptfigur Poirot erhalten dank des A-Klasse-Casts auch sämtliche anderen Figuren im Rahmen ihrer Möglichkeiten ein Profil. Mitunter hat der Regisseur Branagh nur wenige Minuten Zeit, um mithilfe von exakten Gesprächsfetzen und Dialogen dafür zu sorgen, dass Randfiguren von geringer Screentime ein ähnlich verdächtiges Profil erhalten, wie Charaktere mit größerer Leinwandzeit. Doch das Ensemble um Johnny Depp („Pirates of the Caribbean: Salazars Rache“), Daisy Ridley („Star Wars: Das Erwachen der Macht”), Michelle Pfeiffer („mother!“), Judi Dench („Victoria & Abdul“), Josh Gad („Die Trauzeugen AG“), Penélope Cruz („Der Spion und sein Bruder“), Willem Dafoe („What Happened to Monday?“) und Leslie Odom Jr. („Red Tails“) legt zu jedem Zeitpunkt eine solche Genauigkeit in seine Darstellung, dass manchmal ein unbedachtes Wort oder ein subtiler Blick ausreichen, um die Abgründe hinter der schönen Fassade anzudeuten und das Erscheinungsbild sämtliche Figuren um eine zusätzliche Ebene der Unberechenbarkeit zu ergänzen. Das macht „Mord im Orient Express“, wie schon die diversen Interpretationen zuvor, zu einem idealen Film dafür, selbst bis zum Schluss zu versuchen, das Verbrechen zu entschlüsseln. Für Nichtkenner der Vorlage kommt der 83 Jahre alte Krimi jedoch mit einer Auflösung daher, die gleichermaßen plausibel vorbereitet wird und trotzdem gekonnt überrascht. Da können sich die ganzen Twistrider dieser Welt noch ein richtiges Beispiel dran nehmen.

Fazit: Kenneth Branaghs Version von „Mord im Orient Express“ erweckt das Verlangen nach Filmen, von denen wir ganz vergessen haben, dass es sie einmal gab. Die bombastisch gefilmte Mörderjagd ist klassisch-minimalistische Krimiunterhaltung vom Feinsten, zum Leben erweckt von fantastischen Schauspielern.

„Mord im Orient Express“ ist ab dem 9. November bundesweit in den Kinos zu sehen – auch in 70mm!

2 Kommentare

  • Wir haben den Film gestern Abend gesehen. Das „Original“ ist grandios – eine Neuverfilmung muss sich immer damit messen. Hier ist das weitgehend der Fall – über die Qualität der Schauspieler braucht man nicht reden, bei dem Kader. Die Bilder sind grandios, die Kameraeinstellungen auch. Ich hätte mir etwas mehr Einblick in den Schlussfolgerungsprozess von Poirot gewünscht, das kam – meine ich – im Original mehr zur Geltung. Dennoch ein genialer Film der gesehen werden muss!

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